D. Lenz
Erstmals haben Forscher Patienten von Multiple Sklerose (MS) geheilt. Dafür mussten sie allerdings das komplette Immunsystem des Patienten zerstören und durch körpereigenes Knochenmark wieder neu aufbauen. Doch der Aufwand hat sich gelohnt: Bei keinem der Patienten trat innerhalb des Beobachtungszeitraums von 13 Jahren ein neuer Schub oder ein Entzündungsherd auf.
Ottawa (Kanada). Weltweit leiden etwa zwei Millionen Menschen an der Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose (kurz: MS). Bei dieser bisher unheilbaren Krankheit greifen Immunzellen die Myelin-Hüllen der Nerven an und lösen so Entzündungen im Gehirn und am Rückenmark aus. Als Folge treten bei Betroffenen fortschreitende Muskelschwäche, Empfindungsstörungen und Lähmungen auf.
Obwohl das Wissen über diese Krankheit stetig wächst und es gerade in letzter Zeit viele vielversprechende Therapieansätze in der Stammzellenforschung gibt, bleibt die Krankheit bis heute unheilbar.
Harold Atkins und seine Kollegen von dem Ottawa Hospital Research Institute haben nach einem völlig anderem Ansatz gesucht, um Multiple Sklerose zu heilen: Dem kompletten Austausch des Immunsystems.
Für diese Therapie erhalten die Patienten zunächst ein Mittel, dass die blutbildenden Stammzellen dazu veranlasst aus dem Knochenmark ins Blut überzugehen. Anschließend werden sie durch eine Blutabnahme isoliert und eingefroren.
Im nächsten Schritt folgt eine aggressive Chemotherapeutika, die das Immunsystem des Patienten vollständig zerstört. Damit werden auch die Information und die Zellen vernichtet, die zu dem fehlerhaften Angriff auf das eigene Immunsystem verantwortlich sind. Während dieser Zeit sind die Patienten gegen Infektionen völlig ungeschützt und müssen daher in absoluter Isolation bleiben.
Nachdem das Immunsystem des Patienten völlig zerstört wurde, wird dieses durch Infusionen der zuvor entnommenen Knochenmarkzellen wieder neu aufgebaut. Dieser Vorgang setzt anschließend die Produktion neuer Immunzellen in Gang – und diese greifen dann nicht mehr die Nervenhüllen an, wie die Forscher im Fachblatt The Lancet berichten.
In der ersten klinischen Studie der Forscher haben diese 24 Patienten mit einer sehr aggressiven und schnell fortschreitenden Form der Multiplen Sklerose behandelt. Über 13 Jahre nach der Therapie verfolgten die Mediziner, ob es zu weiteren Schüben oder Entzündungen kam.
Die Ergebnisse hätte klarer nicht sein können: Bei keinem der Patienten entwickelte sich nach der Behandlung ein neuer Entzündungsherd, noch bekam einer von ihnen einen weiteren Schub. Bei 40 Prozent der Patienten verbesserte sich sogar die gesundheitliche Situation, die durch vorherige Schübe und Entzündungen gelitten hatte. So konnten Verbesserungen der Sehfähigkeit, der Muskelstärke und des Gleichgewichtssinns festgestellt werden.
„Vor meiner Immuntransplantation konnte ich weder sprechen noch gehen und musste betreut werden“, berichtet Studienteilnehmerin Jenifer Molson. „Jetzt kann ich eigenständig gehen, lebe in meiner eigenen Wohnung und arbeite wieder Vollzeit.“ Zwar haben rund 30 Prozent der Patienten nach Ablauf der Beobachtungszeit einen leichten gesundheitlichen Rückfall erlitten, aber dieser ist mit der schnell fortschreitenden und aggressiven Form der Multiplen Sklerose von früher nicht zu vergleichen.
„Für Menschen, die im Frühstadium an der aggressiven und schnell fortschreitenden Form der MS erkrankt sind, sei die Therapie eine vielversprechende, wenn auch radikale Option“, sagt Atkins. Er betont aber auch, dass die Therapie von schweren Nebenwirkungen und Risiken begleitet wird. Aus diesem Grund sei die Therapie bisher nur für einen geringen Anteil der MS-Patienten geeignet.