Robert Klatt
Im Vatikan wurde mithilfe von Ultraviolettfotografie ein 1750 Jahre altes Bibel-Fragment mit einer syrischen Übersetzung der Evangelien entdeckt. Es handelt sich dabei um eine der ältesten Textzeugen.
Wien (Österreich). Im Mittelalter war Pergament vor allem in der Wüste ein seltenes Material. Deswegen wurden Manuskripte oftmals wiederverwendet, indem sie nach dem Ausradieren des alten Textes erneut beschrieben wurden. Ein Palästinenser radierte deshalb vor etwa 1.300 Jahren einen syrischen Text aus einem Evangelienbuch, um das Pergament erneut verwenden zu können.
Grigory Kessel, einem Mittelalterforscher der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist es nun mithilfe moderner Technologien gelungen, die ursprünglichen Worte auf diesem sogenannten Palimpsest, einem geschichteten Manuskript, die teilweise erhalten waren, wiederherzustellen. Die Texte wurden im 3. Jahrhundert verfasst und im 6. Jahrhundert kopiert. Sie gehören damit zu den ältesten bekannte Übersetzungen der Evangelien.
Laut Kessel handelt es sich bei den Übersetzungen der Evangelien um eine archäologische Sensation.
„Die Tradition des syrischen Christentums kennt mehrere Übersetzungen des Alten und Neuen Testaments. Bis vor kurzem waren nur zwei Handschriften bekannt, die die altsyrische Übersetzung der Evangelien enthalten.“
Eine der genannten Handschriften ist heute in der British Library in London aufbewahrt, während eine weitere als Palimpsest im Katharinenkloster auf dem Berg Sinai entdeckt wurde. Durch das "Sinai Palimpsests Project" konnten kürzlich Fragmente einer dritten Handschrift der Bibel identifiziert werden.
Laut der Publikation im Fachmagazin New Testament Studies sind die kürzlich entdeckten Handschriftenfragmente die vierten Textzeugen. Kessel identifiziert sie mittels Ultraviolettfotografie als Doppelpalimpsest, also als dritte Textschicht, in einer Handschrift der Vatikanischen Bibliothek. Das Fragment ist das einzige bekannte Überbleibsel der vierten Handschrift, das die altsyrische Fassung bezeugt, und ermöglicht somit einen einzigartigen Zugang zur sehr frühen Phase der textuellen Überlieferung der Evangelien.
Je mehr Übersetzungen der Evangelien bekannt sind, desto mehr kann die Wissenschaft über den Originaltext erfahren. Zum Beispiel lautet der griechische Originaltext des Matthäusevangeliums, Kapitel 12, Vers 1: "Zu der Zeit ging Jesus durch die Saat am Sabbat; und seine Jünger waren hungrig, fingen an, Ähren auszuraufen, und aßen". Die syrische Übersetzung enthält hingegen einen anderen Text.
„In jener Zeit ging Jesus an einem Sabbat durch die Kornfelder. Seine Jünger hatten Hunger; sie rissen deshalb Ähren ab und aßen davon. Die Pharisäer sahen es und sagten zu ihm: Sieh her, deine Jünger tun etwas, das am Sabbat verboten ist.“
Wie Claudia Rapp, Direktorin des Instituts für Mittelalterforschung der ÖAW erklärt, hat die Entdeckung eine hohe geschichtliche Bedeutung.
„Grigory Kessel ist aufgrund seiner profunden Kenntnis der alten syrischen Texte und Schriftcharakteristika ein großer Fund gelungen. Diese Entdeckung beweist, wie produktiv und wie wichtig das Zusammenspiel modernster digitaler Techniken in der Grundlagenforschung bei der Begegnung mit den mittelalterlichen Handschriften sein kann.“
Die syrische Übersetzung der Evangelien stammt aus dem 3. Jahrhundert und war bislang nur durch indirekte Überlieferung, also durch Zitate in anderen Werken, bekannt. Dies bedeutet, dass sie mindestens ein Jahrhundert vor den ältesten erhaltenen griechischen Handschriften, einschließlich des bedeutenden Codex Sinaiticus, verfasst wurde. Die frühesten erhaltenen Handschriften, die diese syrische Übersetzung beinhalten, datieren aus dem 6. Jahrhundert und sind in Palimpsesten erhalten geblieben.
New Testament Studies, doi: 10.1017/S0028688522000182