Conny Zschage
Im Harz in Niedersachsen wurde vor Kurzem der Phalanx, bzw. das Zehenglied eines ausgestorbenen Hirsches mit einer auffälligen Gravierungen gefunden. Eine Analyse hat nun ergeben, dass es sich um ein 51.000 Jahre altes Kunstwerk eines Neandertalers handelt.
Harz (Deutschland). Die Einhornhöhle in Niedersachsen ist seit dem Mittelalter eine beliebte Fundstätte für Fossilien und andere Artefakte. Da hier besonders oft Tierknochen längst ausgestorbener Arten gefunden werden, wurde früher gedacht es gäbe auch Überreste von Einhörnern zu finden, wodurch die Höhle ihren Namen bekam.
Vor kurzem wurde in der Höhle der Phalanx eines Megaloceros giganteus gefunden. Dieser Urzeitelch wurde bis zu zwei Meter hoch und 700 Kilogramm schwer. Sein Geweih konnte bis zu 3,65 Meter breit werden. Doch der gefundene Fußknochen war aus einem anderen Grunde noch viel interessanter: Er hatte Gravuren.
Nach einer umfangreichen Analyse des Knochens wurde nun eine Studie der Universität Göttingen im Fachjournal Nature Ecology & Evolution veröffentlicht. Das Ergebnis: Der Phalanx ist etwa 51.000 Jahre alt und wurde von einem Neandertaler geschnitzt. Dies sagt viel über die damalige Technologie aus. Zuerst wurde der riesige Elch gejagt und mit Waffen erlegt, dann musste das Fett und Gewebe vom Knochen gekocht werden, wofür Feuer benötigt wurden. Danach wurde der Phalanx mit einem Werkzeug bearbeitet.
Auf dem Knochen sind mehrere Linien und V-artige Symbole zu sehen. Diese Symbole sind ein Indiz dafür, dass die Neandertaler bereits vor dem Ankommen des modernen Menschen, welcher im Mittelpaläolithikum nach Europa einwanderte, über Kommunikation durch Symbole verfügten. Der Neandertaler war also weitaus schlauer als gedacht, was sein Aussterben umso schwieriger erklären lässt.
Mehrere vergangene Funde haben gezeigt, dass der Neandertaler höchstwahrscheinlich für einige tausend Jahre mit dem modernen Menschen, dem Homo sapiens, in Europa koexistierte. Weshalb nur der Homo sapiens überlebte, ist bisher nicht zweifelsfrei geklärt. Wahrscheinlich kam es zu einem gewissen Zeitpunkt zum Wettbewerb um Ressourcen, den der Homo Sapiens aufgrund seiner höherausgeprägten kognitiven Fähigkeiten gewann. Er war höchstwahrscheinlich besser organisiert und verfügte über fortschrittlichere Technologien.
Doch auch ohne den Einfluss des modernen Menschen wäre der Neandertaler höchstwahrscheinlich ausgestorben. Das Klima wurde instabiler, es kam öfter zu meteorologischen Extremsituationen und der Homo Sapiens brachte Krankheitserreger mit sich. In den immer kleineren Neandertal-Populationen kam es zudem höchstwahrscheinlich zu Inzucht und in der Folge zu einem Leistungsabfall bei neuen Generationen.
Der gefundene Knochen ist das älteste dekorative Objekt aus Niedersachsen und einer der wichtigsten Funde in Zentraleuropa. Die älteste Höhlenmalerei der Welt wurde 2021 in Indonesien identifiziert. Sie wird etwa 45.500 Jahre alt geschätzt. Damit ist der nun gefundene Phalanx ein ganzes Stück älter als die erste Höhlenmalerei und gibt neue Einblicke in das Leben und Denken von Neandertalern.
Nature Ecology & Evolution, doi: 10.1038/s41559-021-01487-z