Robert Klatt
Eine neue Untersuchungsmethode zeigt, dass der Mensch vor 900.000 bis 800.000 Jahren beinahe ausgestorben ist. Alle heute lebenden Menschen gehen laut Genanalysen auf eine winzige Gründerpopulation zurück.
Peking (China). Inzwischen leben auf der Erde rund acht Milliarden Menschen und laut einer Prognose der Initiative Earth4All sollen es bis 2040 zehn Milliarden Menschen sein. In der Entwicklungsgeschichte bildeten die Menschen lange nur deutlich kleinere Populationen, die regional stark schwankten. Die Wissenschaft versucht diese Populationsschwankungen, unter anderem über Spuren im Genom der heute lebenden Menschen, zu rekonstruieren.
Dabei wurden Hinweise auf Umweltveränderungen entdeckt, die zu einem deutlichen Rückgang der Weltbevölkerung geführt haben. Forscher der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) haben nun eine weitere Phase der Evolution des Menschen entdeckt, in der der Mensch fast ausgestorben wäre.
Laut ihrer Publikation im Fachmagazin Science nutzten die Forscher den innovativen Fast Infinitesimal Time Coalescent Process (FitCoal). Mit dieser neuentwickelten Untersuchungsmethode konnten sie genetischen Unterschieden bei heute lebenden Bevölkerungsgruppen identifizieren. Anschließend nutzten sie Daten für Modellberechnungen, die die Rekonstruktion der Populationsgrößen im Zeitverlauf ermöglicht.
Die Genanalyse offenbart einen signifikanten Rückgang der Bevölkerung innerhalb der Homo-Linie, der bislang unbekannt war. Die Daten legen nahe, dass die genetischen Wurzeln der modernen Menschheit aus einer winzigen Gründerpopulation stammen, die zwischen ungefähr 900.000 und 800.000 Jahren kurz vor dem Aussterben stand.
Nach spezifischen Modellschätzungen basierend auf genetischen Indikatoren sank die Bevölkerungsgröße dieser prähistorischen Menschen um mehr als 98 Prozent, bis nur noch schätzungsweise 1.280 Menschen übrig waren. Nach dieser lang anhaltenden, mehr als 100.000 Jahre währenden Bevölkerungskrise gelang es der Gattung Homo, ihre Zahlen schrittweise zu erhöhen und wieder eine demografische Stabilität zu erreichen.
Die Wissenschaftler postulieren, dass der genetische Engpass, der die Abstammungslinien des Homo sapiens, Neandertalers und Denisova-Menschen beeinflusste, vermutlich eine Spezies von Homininen einschloss, die dem Homo heidelbergensis zugeordnet werden könnten. Interessanterweise korrespondiert diese Hypothese laut Giorgio Manzi mit speziellen paläontologischen Befunden aus dem Homo-Komplex.
„Durch den Engpass in der Frühsteinzeit lässt sich nun eine Lücke in den afrikanischen und eurasischen Fossilienfunden chronologisch erklären.“
Laut den Autoren haben wahrscheinlich klimatische Veränderungen den signifikanten Bevölkerungsrückgang ausgelöst. Innerhalb des einschlägigen Zeitraums des Pleistozäns waren beträchtliche Schwankungen der globalen Temperaturen dokumentiert. Diese könnten etwa vor 900.000 Jahren in den Habitatzonen der damaligen menschlichen Vorfahren zu ausgeprägten Dürreperioden und folglich zu einer erheblichen Erschöpfung der Nahrungsmittelquellen geführt haben. Wie Yi-Hsuan Pan erklärt, entstehen durch diese Informationen jedoch neue Forschungsfragen.
„Der neue Befund eröffnet ein neues Feld in der Erforschung der menschlichen Evolution, weil er viele weitere Fragen aufwirft. Etwa nach den Orten, an denen diese Individuen lebten und wie sie die katastrophalen Klimaveränderungen überstanden haben. Es stellt sich die Frage, ob die natürliche Selektion während des Engpasses die Entwicklung des menschlichen Gehirns beschleunigt hat.“
Die prekäre Lebenssituation hätte möglicherweise als Katalysator für bedeutende intellektuelle oder kulturelle Fortschritte dienen können. Neben einer klimatischen Besserung, die ungefähr vor 813.000 Jahren einsetzte, könnte die Beherrschung der Pyrotechnologie ebenfalls eine Rolle bei der raschen demografischen Expansion nach der Bevölkerungskrise gespielt haben.
Science, doi: 10.1126/science.abq7487