Robert Klatt
Grabbeigaben zeigen, dass es bereits in der Bronzezeit nicht-binäre Menschen gab, deren Geschlechteridentität vom biologischen Geschlecht abwich. Auch in prähistorischen Gesellschaften gab es somit keine strikte Trennung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit.
Göttingen (Deutschland). Die Archäologie hat bei der Identifizierung der Verstorbenen bisher nahezu ausschließlich binären Geschlechtermodelle verwendet, bei der das biologische Geschlecht anhand der Knochen-DNA bestimmt wurde. Das Geschlecht eines Menschen hängt aber eher von seiner persönlichen Identität und der äußeren Wahrnehmung als von biologischen Kriterien ab. Forscher der Georg-August-Universität Göttingen und des Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) haben deshalb erstmals untersucht, ob es bereits in der Bronzezeit nicht-binäre Menschen gab.
Laut ihrer Publikation im Cambridge Archaeological Journal analysierten sie mehr als 1.200 Skelette aus der Bronzezeit und der Neusteinzeit. Dabei untersuchten sie die Grabbeigaben, die Indizien dafür lieferten, ob das Geschlechteridentität der Verstorbenen von ihrem biologischen Geschlecht abweicht. Hierbei stehen Schmuckstücke als Hinweis auf weibliche Subjekte und Waffen als Indikatoren für männliche Individuen.
Die Untersuchung umfassten sieben Grabstätten in Deutschland, Österreich und Italien, die teilweise bis zu 7.500 Jahre alt waren. Das Fazit der Untersuchung zeigt, dass bei neun von zehn identifizierten Individuen (90 %) das biologische Geschlecht mit dem sozialen übereinstimmte. Die Erkenntnis, dass bei einem Zehntel der Fälle keine Übereinstimmung vorlag, legt nahe, dass schon in den vorzeitlichen Gesellschaften Individuen existierten, die eine Geschlechteridentität außerhalb der binären Norm hatten.
Diese Erkenntnisse dienen als Beleg für eine angenommene Toleranz gegenüber nicht-binären Individuen schon in antiken Zeiten. Schließlich wurden diese Personen ähnlich wie ihre zeitgenössischen Mitmenschen bestattet, erhielten jedoch Grabbeigaben, die nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmten. Dies legt nahe, dass in prähistorischen europäischen Gesellschaften keine strikten Trennlinien zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit und damit einhergehenden Wertvorstellungen existierten.
Cambridge Archaeological Journal, doi: 10.1017/S0959774323000082