Robert Klatt
Das Urzeitlebewesen Tullimonstrum gregarium galt es Bindeglied der frühen Wirbeltierevolution. Neue 3D-Analysen zeigen nun, dass das Tully-Monster ein ungewöhnlicher Wirbelloser war.
Tokio (Japan). Bei Ausgrabungen in der Mazon Creek Formation im US-Bundesstaat Illinois entdeckten Paläontologen in den 1950er-Jahren Fossilien eines bizarren Tieres, das auf den Namen Tully-Monster (Tullimonstrum gregarium) getauft wurde. Das etwa 15 Zentimeter messende Organismus verfügt anstelle eines Mundes über einen länglichen, rüsselähnlichen Auswuchs, der an der Spitze mit einer zahnbesetzten Zange ausgestattet ist. Seine Augen befinden sich auf zwei ausgedehnten, filigranen Stielen, während der Körper eine segmentierte Struktur aufweist. Dieser Organismus lebte vor etwa 300 Millionen Jahren.
Laut Tomoyuki Mikami von der Universität Tokio ist es in der Forschung bis heute umstritten, worum es sich bei dem Tier genau handelt.
„Die seltsame Morphologie passt zu keinem bekannten Tierbauplan“.
Zunächst wurde das Tully-Monster als eine Art Urzeit-Borstenwurm klassifiziert. Laut einer im Fachmagazin Nature publizierten Studie aus dem Jahr 2016 entdeckten Paläontologen bei einer detaillierten Untersuchung der Anatomie jedoch Merkmale, die von Wirbeltieren bekannt waren. Das Tully-Monster galt deshalb als ein Vorfahre der heute lebenden Neunaugen.
Jedoch war diese Klassifizierung stets umstritten. Angesichts dessen untersuchten Forscher der Universität Tokio das enigmatische Lebewesen erneut eingehender. Sie analysierten 153 fossile Tully-Monster-Proben unter Verwendung eines hochauflösenden 3D-Laserscanners sowie mittels Mikro-Röntgentomographie. Der Fokus lag hierbei insbesondere auf der Kopfregion, da sich in dieser potenziell charakteristische Merkmale verbergen könnten, die für eine präzisere taxonomische Einordnung dienlich sind.
Laut ihrer Publikation im Fachmagazin Palaeontology zeigen die 3D-Laserscans, dass das Tully-Monster doch kein Wirbeltier war. Die Ergebnisse der 3D-Analysen zeigen, dass die scheinbar wirbeltierartigen Eigenschaften, einschließlich eines dreigeteilten Gehirns, segmentierter Muskulatur und Strahlenflossen, in ihrer Beschaffenheit signifikant von den entsprechenden Merkmalen bei Vertebraten abweichen.
„Basierend auf mehreren Linien der Beweisführung ist die Wirbeltier-Hypothese für Tullimonstrum nicht haltbar.“
Des Weiteren ergaben Untersuchungen der Kopfregion des Tully-Monsters eine Segmentierung in der Proboscis, dem ausgedehnten Mundauswuchs des Organismus. Im Falle einer Zugehörigkeit zu den Wirbeltieren und einer rüsselartigen Funktion des Fortsatzes wäre jedoch eine solche Segmentierung in der Proboscis nicht zu erwarten.
„Diese Strukturen sind nicht mit denen der Wirbeltiere vergleichbar. Diese Charakteristik ist von keiner Wirbeltier-Linie bekannt und deutet auf eine Zugehörigkeit zu den Wirbellosen hin.“
Laut den Autoren stellt das enigmatische Tully-Monster weder ein Wirbeltier noch ein Bindeglied der Vertebraten-Evolution dar. Vielmehr betrachten sie das Lebewesen als einen urtümlichen Repräsentanten der Wirbellosen. Es ist möglich, dass das Tully-Monsters zu den Urmündern (Protostomia) gehört, einer Tiergruppe, die heutzutage diverse Würmer, Mollusken, Stummelfüßer und Arthropoden umfasst.
Es ist jedoch auch vorstellbar, dass das Tully-Monster eine frühzeitige Form der wirbellosen Chordatiere repräsentiert und somit ein früher, exotischer Seitenzweig der Stammeslinie sein könnte, zu der heutige Lanzettfischchen und Seescheiden gehören. Trotz der Untersuchungen von Mikami und seinem Team bleibt eine eindeutige Klassifizierung des Tully-Monsters weiterhin ungewiss, da die Zugehörigkeit der fossilen Tierart noch nicht präzise bestimmt werden konnte.
Nature, doi: doi.org/10.1038/nature16992
Palaeontology, doi: 10.1111/pala.12646