Robert Klatt
Archäologen haben die wohl ältesten Wagenspuren der Welt an einem unerwarteten Ort entdeckt. Der Fund wirft ein neues Licht auf die Jungsteinzeit und die Entwicklung der damaligen Hochtechnologien.
Kiel (Deutschland). In der Jungsteinzeit (Neolithikum), die in Mittel- und Nordwesteuropa zwischen 5800 und 4000 vor Christus begann, hat sich die Menschheit deutlich weiterentwickelt. Sie begann Landwirtschaft zu betreiben, züchtete Nutzpflanzen und Tiere und entwickelte neue Methoden für den Transport und die Landbewirtschaftung. Eine der wichtigsten Innovationen dieser Zeit sind die ersten Wagen, die noch von Rindern gezogen wurden.
Die Archäologie ging bisher davon aus, dass von Tieren gezogene Karren im Nahen Osten zuerst entwickelt wurden. Laut Genstudien wurden Rinder in dieser Region schon vor etwa 10.000 Jahren domestiziert. In Europa kreuzten Menschen später Nachfahren dieser Rinder mit wilden Auerochsen, um besonders starke Arbeitstiere zu züchten. Mit diesen wurden unter anderem Rinderkarren gezogen und Äcker gepflügt.
Eine Ausgrabung von Archäologen um Doris Mischka von der Universität Kiel offenbart nun, dass Rinderkarren vor ihrer Nutzung im Nahen Osten bereits im heutigen Deutschland verwendet wurden. Entdeckt haben die Wissenschaftler dies in der sogenannten Flintbeker Sichel, einem der größten Megalith-Friedhöfe Europas, in dem sie zwei zunächst unscheinbare Spuren im Boden fanden.
Laut Untersuchungen stimmt die Breite dieser Linien exakt mit der Breite von Holzrädern aus der Jungsteinzeit überein. Zuvor wurden solche Spuren von jungsteinzeitlichen Holzrädern in einigen Mooren Norddeutschlands entdeckt. Die Abstände der beiden Rillen sprechen laut den Forscher demnach für die Nutzung eines typischen jungsteinzeitlichen Rinderkarrens in der Flintbeker Sichel.
Eine anschließende Datierung der Wagenspuren aus Flintbek zeigt, dass diese bereits um 3400 vor Christus entstanden. Die Spuren sind damit einige hundert Jahre älter als die bislang ältesten bekannten Spuren Europas und Südwestasiens. Es ist laut Mischka demnach denkbar, dass die Spuren im steinzeitlichen Untergrund von Flintbek die ältesten Wagenspuren der Welt sind.
Zudem belegt der Fund, dass bereits in der Jungsteinzeit in der Flintbecker Sichel neue Transportmittel für den Bau der dortigen Gräber verwendet wurden. In der Flintbecker Sichel wurden zuvor neben zahlreichen Ganggräbern aus der frühen Bronzezeit auch 14 Dolmen-Grabhügel und sieben Großgräber aus der Jungsteinzeit entdeckt.
Mischka erklärt überdies, dass die Entdeckung zeigt, dass Rinderkarren nicht nur im Nahen Osten entwickelt wurden, sondern dass auch Menschen in Mitteuropa parallel an dieser Technologie arbeiteten. „Es ist eindeutig, dass die Menschen in Mitteleuropa ebenso früh wie jene des Nahen Osten hochtechnologisiert waren. Das Ergebnis rückt Flintbek in das Zentrum einer der entscheidenden Innovationen der Menschheit“, so der Kieler Archäologe Johannes Müller.