Robert Klatt
Das Universum könnte laut einem neuen Modell ohne Urknall entstanden sein. Stattdessen sollen „temporale Singularitäten“ die Basis für Galaxien und andere kosmische Strukturen erschaffen haben, indem sie Raum und Zeit mit Energie und Materie durchflutet haben. Dunkle Materie und Dunkle Energie sind in dem Modell für die Ausdehnung des Universums und die Entstehung kosmischer Strukturen nicht nötig.
Huntsville (U.S.A.). In der Astronomie gilt der Urknall als das früheste Anfangsstadium des Universums. Dr. Richard Lieu, Physikprofessor an der University of Alabama in Huntsville (UAH) hat nun im Fachmagazin Classical and Quantum Gravity eine neue Theorie publiziert, die das Urknallmodell infrage stellt und stattdessen erklärt, dass das Universum durch eine Reihe extrem schneller, unsichtbarer Energieausbrüche, die er als „temporale Singularitäten“ bezeichnet, entstanden ist.
Laut Lieu sollen diese Ereignisse die Basis für Galaxien und andere kosmische Strukturen geschaffen haben, indem sie Raum und Zeit mit Energie und Materie durchflutet haben. Das Modell bietet somit eine alternative Erklärung für die kosmische Expansion und schlägt vor, dass diese temporalen Singularitäten die Basis für die kosmische Entwicklung sind, auch wenn man diese nicht direkt beobachten kann. Die Existenz von Dunkler Materie und Dunkler Energie ist in dem Modell für die Ausdehnung des Universums und die Entstehung kosmischer Strukturen nicht nötig.
„Diese neue Arbeit schlägt eine verbesserte Version des früheren Modells vor, die zugleich radikal anders ist“, erklärt Lieu. Das neue Modell kann sowohl die Bildung und Stabilität kosmischer Strukturen als auch die beobachteten Eigenschaften der Expansion des Universums erklären – und zwar durch Dichtesingularitäten in der Zeit, die den gesamten Raum gleichmäßig betreffen und die konventionellen Konzepte von Dunkler Materie und Dunkler Energie ersetzen.“
Das neue Modell basiert laut Lieu auf einem Modell von ihm, laut dem Gravitation auch ohne Masse existieren könnte. Die neue Theorie zur Entstehung des Universums wurde jedoch um weitere Aspekte erweitert.
„Diese neue Arbeit schlägt eine verbesserte Version des früheren Modells vor, die zugleich radikal anders ist. Das neue Modell kann sowohl die Bildung und Stabilität kosmischer Strukturen als auch die beobachteten Eigenschaften der Expansion des Universums erklären – und zwar durch Dichtesingularitäten in der Zeit, die den gesamten Raum gleichmäßig betreffen und die konventionellen Konzepte von Dunkler Materie und Dunkler Energie ersetzen.“
Wie Lieu erklärt, erfordert das neue Modell keine exotischen Phänomene wie negative Masse oder negative Dichte. Der Forscher hat stattdessen postuliert, dass sich das Universum durch eine Abfolge stufenartiger Energieausbrüche, die den gesamten Kosmos mit Materie und Energie durchdringen und so schnell sind, dass sie mit keiner Beobachtungsmethode erkannt werden können, ausdehnt.
„Sir Fred Hoyle lehnte die Urknall-Kosmologie ab und stellte stattdessen ein ‘steady state’-Modell des Universums auf, bei dem Materie und Energie kontinuierlich erzeugt werden, während sich das Universum ausdehnt. Aber diese Hypothese verletzt das Gesetz der Erhaltung von Masse und Energie. In der aktuellen Theorie hingegen erscheinen und verschwinden Materie und Energie in plötzlichen Ausbrüchen – und das Interessante daran ist, dass dabei keine Erhaltungsgesetze verletzt werden. Diese Singularitäten sind nicht beobachtbar, weil sie nur selten und extrem kurzzeitig auftreten. Das könnte der Grund sein, warum Dunkle Materie und Dunkle Energie bisher nicht gefunden wurden. Der Ursprung dieser temporalen Singularitäten ist unbekannt – aber das gilt ebenso für den Moment des Urknalls.“
Laut der neuen Theorie von Lieu sollen die temporalen Singularitäten zudem in Raum und Zeit einen negativen Druck erzeugen, also eine Energieform mit abstoßender Gravitationswirkung, die zur beschleunigten Expansion des Universums beiträgt, ähnlich wie die Dunkle Energie.
„Ein Beispiel ist der negative Druck, den ein Magnetfeld entlang einer Feldlinie ausübt. Einstein postulierte ebenfalls negativen Druck in seinem Aufsatz von 1917 über die kosmologische Konstante. Wenn positive Massendichte mit negativem Druck kombiniert wird, gibt es gewisse Einschränkungen, die sicherstellen, dass die Massendichte für jeden sich gleichförmig bewegenden Beobachter positiv bleibt. Dadurch wird in dem neuen Modell die Annahme einer negativen Dichte vermieden.“
Wie Lieu erklärt, unterscheidet sich seine Theorie vom Urknallmodell vor allem dadurch, dass im Urknallmodell lediglich ein einzelnes Ereignis für die Entstehung des Universums und die anhaltende Expansion verantwortlich ist, während die temporale Singularität in seinem Modell kontinuierlich auftritt.
„Sie sind nicht allgegenwärtig – das heißt, sie sind nicht zu allen Zeiten vorhanden. Sie treten nur in kurzen Momenten auf, in denen sich Materie und Energie gleichmäßig über das gesamte Universum verteilen. Zwischen diesen Momenten sind sie nirgendwo zu finden. Der einzige Unterschied zwischen diesem Modell und dem Standardmodell besteht darin, dass die temporale Singularität im Standardmodell nur einmal auftrat, während sie im neuen Modell mehrfach vorkommt.“
Lieu möchte nun seine Theorie durch die Analyse astronomischer Daten validieren.
„Die beste Möglichkeit, den vorgeschlagenen Effekt nachzuweisen, ist tatsächlich die Nutzung eines großen, erdgebundenen Teleskops – etwa des Keck-Observatoriums in Waimea, Hawaii, oder der Isaac-Newton-Teleskopgruppe auf La Palma, Spanien – um Deep-Field-Beobachtungen durchzuführen, deren Daten dann nach Rotverschiebung sortiert werden. Mit ausreichender Auflösung in Bezug auf die Rotverschiebung – oder anders gesagt: Zeit – könnte sich zeigen, dass das Hubble-Diagramm Sprünge in der Rotverschiebung-Entfernungsrelation aufweist. Das wäre äußerst aufschlussreich.“
Classical and Quantum Gravity, doi: 10.1088/1361-6382/adbed1