Rätsel der Evolution

Chromosomenanalysen offenbaren früheste Tiere

Robert Klatt

Kammquallen — (a) Beroe ovata, (b) Euplokamis sp., (c) Nepheloctena sp., (d) Bathocyroe fosteri, (e) Mnemiopsis leidyi, and (f) Ocyropsis sp. )noitartsinimdA cirehpsomtA dna cinaecO lanoitaN ,htulbgnuoY hsraM :d ;noitartsinimdA cirehpsomtA dna cinaecO lanoitaN ,dlowsirG .R :c ;nayR .F hpesoJ :f ,e ,b ,a(Foto: © 
Auf den Punkt gebracht
  • Eine Analyse, die nicht die Entwicklung der Gene im Zeitverlauf, sondern die sequenzielle Anordnung der Gene auf den Chromosomen untersucht hat, hat ein Rätsel der Evolution gelöst
  • Die Ergebnisse zeigen, dass sich vor 600 oder 700 Millionen Jahren Rippenquallen als erste Tiere aus einzelligen Mikroorganismen entwickelt haben

Chromosomenanalysen haben ein Rätsel der frühesten Evolution gelöst und offenbart, welche Tiere sich als Erstes aus einzelligen Mikroorganismen entwickelt haben.

Wien (Österreich). Die Entstehung mehrzelliger Tiere aus einzelligen Mikroorganismen vor mehreren hundert Millionen Jahren ist einer der zentralen Abschnitte der Evolution. Die Frage, welche der heutigen Tierarten die primordialste ist, konnte die Forschung bisher nicht klären. Genanalysen zeigen, dass sowohl Schwämme, also Organismen ohne Organe oder Nervensysteme, als auch Rippenquallen (Ctenophora) diese Rolle einnehmen könnten.

Wissenschaftler der Universität Wien unter Leitung von Darrin Schultz haben das Rätsel der Evolution nun gelöst. Laut ihrer Publikation im Fachmagazin Nature haben die Forscher nicht, wie üblich, die Entwicklung der Gene im Zeitverlauf untersucht, sondern die sequenzielle Anordnung der Gene auf den Chromosomen. Dieser Aspekt zeigt über die Jahrmillionen nur minimale Veränderungen. In einem vorausgegangenen Forschungsprojekt konnte die Gruppe bereits aufzeigen, dass Schwämme, Quallen und eine Vielzahl weiterer wirbelloser Tiere fast identische genetische Muster auf den Chromosomen aufweisen, und dies trotz einer unabhängigen evolutionären Entwicklung über mehr als eine halbe Milliarde Jahre.

„Wir haben eine neue Methode entwickelt, um einen der tiefsten Einblicke in die Ursprünge des tierischen Lebens zu erhalten. Die Fingerabdrücke dieses uralten evolutionären Ereignisses sind auch noch Hunderte von Millionen Jahren später in den Genomen der Tiere zu finden.“

Chromosomenstruktur von Schwämmen, Rippenquallen und Einzellern analysiert

In der neuen Untersuchung haben die Forscher die chromosomale Beschaffenheit von zwei Schwammarten, zwei Arten von Rippenquallen und drei einzelligen, die nicht zur Tiergruppe zählen, verglichen. Laut Daniel Rokhsar zeigen die Ergebnisse, dass die genetische Anordnung bei den Rippenquallen signifikante Ähnlichkeiten zu der der Einzeller aufweist.

„Das war der Knackpunkt. Wir fanden eine Handvoll Umlagerungen, die Schwämme und alle anderen Tiere außer Rippenquallen gemeinsam haben. Im Gegensatz dazu ähnelten die Rippenquallen den Nicht-Tieren. Die plausibelste Erklärung ist, dass sich die Rippenquallen abgezweigt haben, bevor die Umstrukturierungen stattfanden.“

Rückblick in die frühe Evolution

Wie Rokhsar erklärt, ermöglichen die Ergebnisse der Chromosomanalysen einen Rückblick in die frühe Evolution.

„Der jüngste gemeinsame Vorfahre aller Tiere lebte wahrscheinlich vor 600 oder 700 Millionen Jahren. Es ist schwer zu sagen, wie sie aussahen, da es sich um Tiere mit weichen Körpern handelte, die keine direkten fossilen Spuren hinterlassen haben. Aber wir können Vergleiche zwischen lebenden Tieren anstellen, um etwas über unsere gemeinsamen Vorfahren zu erfahren. Mit unserer Analyse blicken wir tief in die Vergangenheit zurück, wo wir keine Hoffnung haben, Fossilien zu finden – aber durch den Vergleich von Genomen lernen wir etwas über diese sehr frühen Vorfahren.“

Die Untersuchung bietet folglich einen essenziellen Beitrag zum Verständnis der verwandtschaftlichen Verhältnisse zwischen den Tiergruppen, von den basalen Lebewesen wie den Rippenquallen und Schwämmen, über die Würmer und Arthropoden, bis zu den Wirbeltieren, einschließlich des Menschen. Überdies kann sie Aufschluss darüber geben, wie grundlegende Eigenschaften wie das neuronale System, die muskuläre Struktur und das Verdauungssystem ihren Ursprung fanden und sich im Laufe der Zeit weiterentwickelten, erklärt Schultz.

„Diese Forschung trägt dazu bei, die Grundlage unseres Verständnisses der Genetik des tierischen Lebens zu stärken. Sie gibt uns einen Kontext für das Verständnis dessen, was Tiere zu Tieren macht. Diese Arbeit wird uns helfen, die grundlegenden Funktionen zu verstehen, die alle Tiere gemeinsam haben, z. B. wie sie ihre Umgebung wahrnehmen, wie sie essen und wie sie sich fortbewegen.“

Nature, doi: 10.1038/s41586-023-05936-6

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