Robert Klatt
Forscher haben erstmals belegt, dass manchen Einzeller Viren als Hauptnahrungsquelle (Virovorie) nutzen. Viren parasitieren und töten also nicht nur andere Organismen, sondern werden auch selbst zu Beute und bilden damit womöglich die Grundlage der Nahrungsketten auf der Erde.
Lincoln (U.S.A.). Viren kommen auf der Erde nahezu überall vor. Die Wissenschaft schätzt, dass ihre Gesamtzahl die Zahl der lebenden Zellen um das Zehn- bis Hundertfache übertrifft. Aktuell geht man davon aus, dass Viren in ihren Ökosystemen primär Prädatoren sind, die andere Organismen parasitieren und abtöten. Ein Team des Bigelow Laboratory for Ocean Sciences entdeckte 2020 jedoch erstmals einen Einzeller, der Viren frisst.
Basierend auf diesem Fund haben nun Forscher der University of Nebraska-Lincoln herausgefunden, dass manche im Wasser lebende, zu den Wimperntierchen gehörende Einzeller Viren als Hauptnahrungsmittel nutzen. Laut ihrer Publikation im Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences wurde die sogenannte Virovorie bei Halteria sp. und Paramecium bursaria entdeckt.
Die Wissenschaftler um John DeLong kultivierten die Einzeller im Labor n Wasser, das typische Chloroviren enthielt. Chloroviren kommen in der Umwelt in vielen Gewässern vor und befallen vor allem Grünalgen. Einzelne Viren sind sehr klein, enthalten aber trotzdem Proteine, Nukleinsäuren und Fette.
„Wir haben das Populationswachstum von Halteria und Paramecium im Fressversuchen mit und ohne Zugabe von Chloroviren untersucht. Wenn sie in genügender Menge aufgenommen werden, könnten sie daher durchaus als Nahrung dienen und die Populationsdynamik der Spezies, die sie vertilgen, beeinflussen.“
In dem Experiment sank die Anzahl der Viren im Wasser bei den Halteria-Wimperntierchen schnell ab. Nach zwei Tagen enthielt der Testbehälter nur noch ein Hundertstel der Ausgangsmenge. Gleichzeitig vermehrten sich die Ciliaten um das 15-Fache. In Wasserproben ohne Viren als Nahrungsquelle verändert sich die Anzahl der Halteria sp. Einzeller nicht.
Die Forscher überprüften deshalb, ob die Halteria-Einzeller tatsächlich die Viren fressen. Dazu markierten sie die Chloroviren mit einem grünen Farbstoff. Anschließend begannen auch die Einzeller grünlich zu leuchten. Es ist somit belegt, dass diese Wimperntierchen die Viren fressen und in ihre Zellen aufnehmen.
Bei Paramecium bursaria Einzeller sank die Anzahl der Viren im Testbehälter nicht. Viren dienen also nicht allen Wimperntierchen als Nahrung. In weiteren Experimenten konnten die Autoren jedoch zeigen, dass auch Euplotes, das Pantoffeltierchen Paramecium caudatum und andere Einzeller Viren als Nahrung nutzen.
Die Studie belegt somit erstmals, dass Organismen Viren als Nahrungsquelle verwenden können und dass eine rein virale Ernährung (Virovorie) möglich ist. Laut Schätzungen der Forscher kann ein Halteria-Einzeller zwischen 100.000 und einer Million Viren täglich konsumieren.
„In einem kleinen Tümpel könnten auf diese Weise hundert Billionen bis zehn Billiarden Virionen pro Tag gefressen werden.“
Analysen ergaben zudem, dass Halteria sp. etwa 17 Prozent der Virenmasse in Körpermasse umwandelt. Die Wachstumseffizienz der Virennahrung ist damit nahezu identisch mit der typischen Nahrung von Einzellern, die aus Bakterien und Viren besteht. In aquatischen Lebensräumen sind Viren und andere organische Materialien also ähnlich nährende Futterquellen.
Die Studie zeigt, dass Viren eine entscheidende Rolle in den globalen Nahrungsketten spielen könnten. Es ist möglich, dass sie mit ihren energiereichen Inhaltsstoffen entscheidend zum globalen Kohlenstoffkreislauf und zum Aufbau von Biomasse beitragen.
„Doch in bisherigen Modellen von aquatischen Nahrungsnetzen und Ökosystemen fehlt diese trophische Verbindung zwischen Viren und ihren Konsumenten völlig.“
Wenn weitere Studien belegen, dass Viren in ihren Ökosystemen auch Beute sind, wären die Konsequenzen groß, weil sie dann ein bisher unbeachteten Bestandteil der globalen Nahrungsnetze wären. Zudem müsste untersucht werden, wie die Virovorie sich auf Virenpopulationen und die Virenevolution auswirkt.
Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.221500012