Begeißelte Eukaryoten

Irdische „Aliens“ – Neue Gruppe am Baum des Lebens entdeckt

Robert Klatt

Einzeller aus der Supergruppe Provora )erutaNgnileeK dnu nihsoelA ,vokinlyM ,anikorP ,anidoroB ,iynnoymugaZ ,vopraK ,ruhtaM ,veayleB ,kulyrwaG ,voliahkiM ,voknenohkiT(Foto: © 
Auf den Punkt gebracht
  • Eine neuentdeckte Supergruppe des Stammbaum des Lebens unterscheidet sich so stark von allen bekannten Lebewesen der Erde, dass ihre Entdecker sie als irdische "Aliens" bezeichnen
  • Die Provora sind einzellige, begeißelte Eukaryoten, die sich räuberisch von anderen Einzeller ernährern

Die Provora unterscheidet sich in ihrer Morphologie und Genetik stark von allen bekannten Lebewesen der Erde. Ihre Entdecker bezeichneten die neue Supergruppe des Baums des Lebens deshalb auch als irdische „Aliens“.

Endowment Lands (Kanada). Der Stammbaum des Lebens ist eine gigantische Visualisierung mit Informationen zu allen bekannten lebenden und kürzlich ausgestorbenen Arten der Erde. Er umfasst aktuell etwa 2,2 Millionen Spezies. Die Organismen sind in die drei großen Domänen Bakterien, Archaeen und Eukaryoten unterteilt, die sich wiederum in mehrere Reiche und Supergruppen teilen. Besonders bei den mikrobiellen Einzellern hat der Organismenstammbaum aber noch große Lücken.

Ein Team der University of British Columbia (UBC) und der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAW) hat nun eine neue Supergruppe entdeckt, die eine Lücke im Stammbaum des Lebens schließt. Die neuentdeckte Supergruppe Provora umfasst einzellige, begeißelte Eukaryoten, die auch als irdische „Aliens“ bezeichnet werden, weil sie sich im Verhalten sowie genetisch und morphologisch von allen anderen bekannten zellkerntragenden Organismen unterscheiden.

Supergruppe der Eukaryoten

Laut Denis Tikhonenkov unterscheidet sich die stark von allen anderen lebenden Wesen auf Erde. Die Provora sind also eine sehr ursprüngliche Supergruppe der Eukaryoten, deren Existenz ähnlich lange andauert und ähnlich umfassend ist wie die Reiche der Tiere, Pflanzen oder Pilze.

„In der Taxonomie verwenden wir oft die 18S-rRNA, um genetische Unterschiede zu beschreiben. Doch zu unserer Überraschung stellten wir fest, dass sich diese Mikroben an 170 bis 180 der 185 Nukleotiden von jedem anderen lebenden Wesen auf Erden unterscheiden. Damit war klar, dass wir hier etwas komplett Neues und Erstaunliches entdeckt hatten.“

Wie stark die Unterschiede tatsächlich sind, verdeutlicht auch der Mensch, der sich nur durch sechs Nukleotide dieses Gens vom Schwein unterscheidet.

Provora bewohnen alle Meere

Laut ihrer Publikation im Fachmagazin Nature haben die Forscher die neue Supergruppe in Wasserproben aus unterschiedlichen marinen Lebensräumen und Meeren der Erde entdeckt. Die einzelligen, begeißelten Eukaryoten bewohnen sowohl Korallenriffe der Tropen als auch den Pazifik, Atlantik und den Arktischen Ozean sowie weitere Regionen des Planeten.

„Ich bemerkte in den Proben einige winzige Organismen mit zwei Flagellen, die auf der Stelle rotierten oder schnell umherschwammen.“

Analysen der begeißelten Einzeller zeigten, dass diese sich morphologisch deutlich von den bekannten Flagellaten unterscheiden. Gemeinsam haben die neuentdeckten Einzeller eine komplexe Zellmembran, eine bauchseitige Mundkerbe und zwei Geißeln. Untereinander unterscheiden sie sich jedoch ebenfalls stark.

„Offenbar besetzen diese Organismen in ihren mikrobiellen Lebensgemeinschaften jeweils unterschiedliche Nischen.“

Räuberische Einzeller

Die Provora haben alle eine räuberische Lebensweise und ernähren sich von anderen Einzellern. Zwischen der Untergruppe der Nebuliden und der Nibbleriden unterscheidet sich die Art der Ernährung aber stark. Die Nebuliden essen ihre einzellige Beute im Ganzen, während die Nibbleriden ihre Beute nach und nach knabbern.

Im Vergleich zu nichträuberischen Einzellern kommen die Einzeller der Provora-Supergruppe zahlenmäßig deutlich seltener vor. Dies ist laut Patrick Keeling typisch für räuberische Lebensformen.

„Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Außerirdischer und würden die Serengeti untersuchen: Sie würden dort eine Menge Pflanzen und vielleicht nur einen oder sogar gar keine Löwen finden. Und die Provora sind gewissermaßen die Löwen der Mikrobenwelt.“

Außerdem erklären die Forscher, dass ihr Fund belegt, dass das Wissen über den Stammbaum des Lebens noch große Lücken hat. Als Nächstes möchten sie das Genom der Provora komplett sequenzieren und weitere Organismen der Supergruppe suchen.

„Dies ist ein uralter Ast am Baum des Lebens, der genauso vielfältig ist wie das Tierreich und die Pilze zusammen – und trotzdem wusste niemand, dass es ihn gibt.“

Nature, doi: 10.1038/s41586-022-05511-5

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