Conny Zschage
Kanarienvögel gehören zu den ältesten domestizierten Vögeln. Bereits im 15. Jahrhundert wurden sie auf den Kanarischen Inseln als Ziervögel gehalten. Heute sind Kanarienvögel besonders für ihre vielen Farben und ihren Gesang bekannt. Doch der eher unspektakuläre Vogel hat ein erstaunlich vorausschauendes Immunsystem.
Stillwater (U.S.A.). Wenn einem Menschen ein Foto eines anderen, kranken Menschen gezeigt wird, erhöht sein Körper die Produktion von entzündungsfördernden Chemikalien, sogenannten Zytokinen, welche das Immunsystem stärken. Dies ist der Wissenschaft bereits bekannt. Durch die momentane Pandemie ist die Frage nach den genauen Gründen für eine solche Immunantwort wieder interessant geworden.
Nun wollten Forscher herausfinden, ob so eine Immunantwort auch bei Wildtieren möglich ist. Dazu wurden neun gesunde Kanarienvögel in der Nähe eines kranken Kanarienvogels gehalten. Ein Teil der gesunden Vögel konnte den kranken Vogel sehen, der andere nicht. Beide Teile wurden weit genug entfernt zum kranken Vogel gehalten, um ein Überspringen der injizierten Krankheit, Mycoplasma gallisepticum (MG) zu verhindern. MG löst eine Bindehautentzündung und extreme Lethargie bei betroffenen Vögeln aus und ist durch ein „Aufpuffen“ der Federn leicht zu erkennen.
Über den Zeitraum von einem Monat wurden regelmäßig Blutproben der gesunden Vögel genommen und untersucht. Außerdem wurde das Aussehen des kranken Vogels protokolliert. Die Ergebnisse wurden in einer Studie in der Fachzeitschrift The Royal Society veröffentlicht. Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass das Immunsystem der gesunden Vögel umso aktiver wurde, umso kränklicher der infizierte Vogel aussah. Auch die Anzahl der weißen Blutkörperchen veränderte sich. Dabei war auch bemerkenswert, dass tatsächlich nur gesunde Vögel, welche den kranken Vogel sehen konnten, eine Immunantwort zeigten. Vögel, welche den kranken Vogel nur hören oder riechen konnten, zeigten keine veränderten Blutwerte.
Der Grund für diese vorsorgliche Immunantwort ist, dass wilde Kanarienvögel sich oft in Schwärmen aufhalten. Dadurch können sich Krankheiten leicht verbreiten. Da das Immunsystem allerdings gestärkt wird, bevor der Vogel die Krankheit überhaupt bekommt, entsteht eine Art Herdenimmunität, die zwar nicht vollständig schützt, aber den Körper besser auf eine Infektion vorbereitet. Dadurch kann verhindert werden, dass ein ganzer Schwarm auf einmal krank wird. Bei anderen Tierarten, zum Beispiel Flusskrebsen, schützen sich die Tiere eines Schwarmes, indem sie sich von einem kranken Exemplar distanzieren oder es aus der Gruppe ausschließen. Dies kann allerdings dazu führen, dass eine größere Gruppe Tiere zerbricht und dadurch verwundbarer für Fressfeinde wird. Somit ist die Immunreaktion als Antwort auf das visuelle Wahrnehmen einer Gefahr, wie es bei den Kanarienvögeln der Fall ist, eine weitaus bessere Abwehrmethode für Krankheiten.
Der untersuchte Abwehrreflex der Vögel soll nun weiter analysiert werden, um ähnliche Mechanismen auch außerhalb des Vogelreichs zu finden. Auch bei Menschen soll der Mechanismus genauer angeschaut werden. Falls ähnliche Immunreaktionen wie bei den Kanarienvögeln auftreten wäre es zum Beispiel möglich, mediale Kampagnen zu den Folgen von beispielsweise der Grippe durchzuführen, welche dann die Bevölkerung zu einem sehr geringen Grad schützen könnten. Möglicherweise lässt sich diese Immunantwort durch zukünftige Gentechnologien auch noch verstärken.
The Royal Society, doi: 10.1098/rsbl.2021.0125