Robert Klatt
Die soziale Isolation durch die Covid-19-Lockdowns hat die Gehirnalterung bei Jugendlichen beschleunigt. Bei Mädchen war der Effekt deutlich stärker als bei Jungen.
Seattle (U.S.A.). In der Übergangsphase zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter kommt es beim Menschen zu großen Veränderungen in der emotionalen, verhaltensbezogenen und sozialen Entwicklung. In der Adoleszenz entwickelt sich etwa das Selbstbewusstsein, das Selbstvertrauen und die Selbstkontrolle. Forscher der University of Washington (UW) haben deshalb untersucht, ob die restriktiven Maßnahmen während der Covid-19-Pandemie, darunter vor allem die Lockdowns, die die sozialen Interaktionen stark reduziert haben, die Entwicklung von Jugendlichen beeinflusst haben.
„Wir denken an die COVID-19-Pandemie als eine Gesundheitskrise, aber wir wissen, dass sie auch andere tiefgreifende Veränderungen in unserem Leben bewirkt hat, besonders für Teenager.“
Laut der Publikation im Fachmagazin PNAS haben die Forscher Daten einer Längsschnittstudie verwendet, die 2018 mit 160 Jugendlichen im Alter von 9 bis 17 Jahren begonnen hat. Die Studie sollten ursprünglich Veränderungen der Gehirnstruktur während der normalen Adoleszenz untersuchen. 2021 haben die Forscher die Gehirnstruktur der Probanden erneut untersucht.
„Sobald die Pandemie begonnen hatte, fingen wir an zu überlegen, welche Gehirnmaße uns helfen könnten, abzuschätzen, was der Lockdown mit dem Gehirn gemacht hat. Was bedeutete es für unsere Teenager, zu Hause zu sein, anstatt in ihren sozialen Gruppen – nicht in der Schule, nicht beim Sport, nicht beim Zusammensein?“
Die Gehirnreifung kann anhand der Dicke der äußeren Schicht des Gehirngewebes bestimmt werden. Alterungsprozesse sorgen dafür, dass der Kortex bei Jugendlichen dünner wird. Es ist zudem bekannt, dass chronischer Stress dazu führen kann, dass der Kortex schneller dünner wird als normal und dass dadurch das Risiko für psychische Krankheiten zunimmt, darunter Angst und Depression.
Um zu untersuchen, ob die soziale Isolation, während der Covid-19-Pandemie die Ausdünnung des Kortex beeinflusst, haben die Forscher mithilfe der 2018 gewonnenen Daten ein Modell entwickelt, dass die Ausdünnung des Kortex im Teenageralter prognostiziert. 2021 haben sie die Gehirne erneut untersucht, um zu bestimmen, wie die Gehirnreifung, während der Covid-19-Pandemie abgelaufen ist.
Die Daten zeigen klar, dass die Gehirne der Jugendlichen, während der Covid-19-Pandemie schneller gealtert sind als normal. Bei Mädchen war dieser Effekt deutlich größer als bei Jungen. Im Mittel wurden bei ihnen 4,2 beschleunigten Entwicklungsjahre gemessen, während es bei Jungen nur 1,4 Jahre waren. Zudem kam es bei Mädchen im gesamten Gehirn zu einer Kortexausdünnung, während bei Jungen nur der visuelle Kortex betroffen war.
Laut den Forscher ist die stärkere Auswirkung auf weibliche Gehirne auf Unterschiede in der Bedeutung sozialer Interaktionen zurückzuführen. Weibliche Jugendliche sind oft stärker auf die Beziehungen zu anderen Mädchen angewiesen, während sich Jungen vor allem treffen, um körperliche Aktivitäten auszuführen.
„Teenager balancieren wirklich auf einem schmalen Grat, wenn sie versuchen, ihr Leben zu ordnen. Sie stehen unter enormem Druck. Dann trifft eine globale Pandemie ein und ihre üblichen Möglichkeiten, Stress abzubauen, sind verschwunden. Diese Ventile gibt es nicht mehr, aber der soziale Druck und die Kritik bestehen durch soziale Medien weiterhin. Was die Pandemie offenbar bewirkt hat, ist, dass sie besonders Mädchen isoliert hat. Alle Teenager wurden isoliert, aber Mädchen haben stärker darunter gelitten. Das hat ihre Gehirne viel dramatischer beeinflusst.“
PNAS, doi: 10.1073/pnas.2403200121