Robert Klatt
Ärzte haben erstmals die Gehirnaktivität eines Menschen Sekunden vor und nach dessen Tod aufgezeichnet. Die dabei beobachteten Gehirnwellen treten normalerweise beim Gedächtnisabruf und beim Träumen auf. Es ist demnach wahrscheinlich, dass vor dem Tod tatsächlich das Leben vor dem inneren Auge vorbeizieht.
Louisville (U.S.A.). Die Menschheit beschäftigt sich schon seit Langem damit, was im Moment des Sterbens geschieht. Berichte von Nahtod-Erfahrungen deuten darauf hin, dass das Leben eines Menschen in den Sekunden vor seinem Tod noch mal vor dessen inneren Auge vorbeizieht. Wissenschaftler der University of Louisville haben nun erstmals Daten erhoben, die diese These stützten.
Wie das Team um Ajmal Zemmar im Fachmagazin Frontiers in Aging Neuroscience berichtet, haben sie erstmals Gehirnscans eines sterbenden Menschen kurz vor und nach seinem Tod aufgezeichnet. Dabei beobachteten sie Gehirnwellen, die normalerweise beim Träumen, Meditieren und beim Abrufen von Erinnerungen auftreten. Diese Gehirnwellen setzt kurz vor dem letzten Herzschlag ein und blieben bis 15 Sekunden danach aktiv.
Die sensationelle Beobachtung geht laut Zemmar auf einen Zufall zurück. Im Jahr 2016 wurde ein 87-jähriger Mann mit einem Herzinfarkt in ein kanadisches Krankenhaus eingeliefert. Der Patient hatte Blutungen zwischen seinem Gehirn und dem Schädel. Ärzte, darunter auch Zemmar, konnte das Gerinnsel entfernen. Trotzdem kam es nach drei Tagen bei dem Patienten zu starken Krampfanfällen.
Daraufhin wurde der alte Mann mit einem Elektroenzephalogramm (EEG) überwacht, um die Ursachen für die Krampfanfälle zu bestimmen. Kurz darauf verstarb der Patient jedoch an einem Herzstillstand und das EEG zeichnete die Gehirnwellen in diesem Moment auf. „So etwas kann man nicht planen. Kein gesunder Mensch wird ein EEG machen, bevor er stirbt, und bei kranken Patienten wissen wir nicht, wann genau sie sterben werden“, so Zemmar.
Laut dem EEG begannen 15 Sekunden vor dem Tod des Patienten hochfrequente Gehirnwellen (Gamma-Oszillationen) sowie langsamere Oszillationen (Theta, Delta, Alpha und Beta). Diese Gehirnströme sind mit Träumen, Flashbacks, Gedächtnisabruf, Meditation und Konzentration assoziiert. „Und diese Schwingungen gingen sogar weiter, nachdem das Herz aufgehört hatte, Blut ins Gehirn zu pumpen. Das war für uns eine große Überraschung“, erklärt Zemmar gegenüber Business Insider.
Die Wissenschaftler veröffentlichten die Ergebnisse erst einige Jahre nach der Beobachtung, weil sie abwarten wollten, ob noch ähnliche Fälle geschehen. Sie konnten jedoch nur eine ähnliche Studie finden, in der die Gehirnaktivität von Ratten gemessen wurden, bei denen künstlich ein Herzstillstand ausgelöst wurde.
Weil die Studiendaten somit nur von einem einzigen Patienten stammen, der dazu noch unter Blutungen und Krampfanfällen litt, können die Ergebnisse nur schwer verifiziert werden. „Was wir mit Sicherheit behaupten können, ist, dass wir Signale kurz vor dem Tod und kurz nach dem Herzstillstand erkannten – wie sie etwa bei einem gesunden Menschen auftreten, wenn er träumt oder sich erinnert oder meditiert“, erklärt Zemmar. Zudem sind die Ergebnisse deckungsgleich mit Berichten über Nahtod-Erfahrungen, in denen Menschen erzählten, dass ihr Leben vor ihrem inneren Auge vorbeizog.
Frontiers in Aging Neuroscience, doi: 10.3389/fnagi.2022.813531