Robert Klatt
Chromothripsis (Chromosomen-Explosionen) sind bei 49 Prozent aller Krebserkrankungen nachweisbar. Die Prognosen für Patienten sind oft schlecht, weil Tumore, die durch Chromothripsis verursacht werden, deutlich aggressiver sind als Tumore, die durch langsame Mutationen und DNA-Schäden entstehen.
Heidelberg (Deutschland). Die Medizin ist bisher davon ausgegangen, dass Krebs in den meisten Fällen langsam durch Mutationen und DNA-Schäden entsteht, die langfristig die Entartung einer Zelle auslösen können. Dies führt zu einer unkontrollierten Zellteilung, die nicht durch das zelluläre Selbstmordprogramm oder das Immunsystem gestoppt wird und so schlussendlich einen schnell wachsenden Krebstumor bildet.
Neben der eher langsamen Entstehung von Krebstumoren ist es seit Längerem auch bekannt, dass ein Prozess, der am ehesten mit einer Explosion vergleichbar ist, dazu führen kann, dass ein oder mehrere Chromosomen in kurzer Zeit zerfallen. Es entstehen dabei bis zu tausende DNA-Strangbrüchen, die dazu führen, dass ganze Genabschnitte sich ablösen. Der so entstehende Großschaden überfordert die DNA-Reparaturmechanismen der Zellen und sorgt dafür, dass die zerstörten Chromosom unvollständig oder fehlerhaft zusammengebaut werden.
Diese sogenannte Chromosomen-Explosion führt häufig dazu, dass potente Krebsgene aktiviert werden. Natalia Voronina vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg erklärt, dass „die Chromothripsis mit einem besonders aggressiven Tumorverhalten und mit einer schlechten Prognose für die Krebspatienten verknüpft ist.“
Unklar war bisher, welchen Anteil die Chromothripsis bei Krebserkrankungen hat. Schätzungen gingen davon aus, dass die Chromosomen-Explosion nur zwei bis drei Prozent aller Tumore auslöst. Wissenschaftler des DKFZ um Studienleiterin Voronina haben deshalb eine Studie erstellt, für die das Erbgut von 634 Tumorproben aus 28 Krebsarten untersucht wurde. Laut der im Fachmagazin Nature Communications publizierten Forschungsergebnisse wurden alle häufigen Tumortypen analysiert.
Das Ergebnis ist auch für die Studienautoren überraschend. Anstatt der erwarteten bis zu drei Prozent, ist Chromothripsis bei 49 Prozent aller Krebserkrankungen in den Tumorzellen nachweisbar. Die Wissenschaftler konstatieren demnach, dass „Chromothripsis die Ursache für einen substanziellen Anteil der menschlichen Krebserkrankungen ist.“ Ein Muster für bestimmte Chromosomen und Chromosomenteile, die besonders anfällig für den explosiven Zerfall sind, konnte die Studie nicht finden. Es wurde jedoch nachgewiesen, dass manchmal nur ein Chromosom, häufig aber auch eine Reihe von Chromosom betroffen sind.
Große Unterschiede zeigen sich je nach Krebsart. Am häufigsten tritt die Chromothripsis mit etwa 80 Prozent bei Brust- und Leberkrebs auf. Melanom (Hautkrebs), Knochenkrebs und Keimzellkrebs haben einen Anteil von etwa 60 Prozent Chromothripsis. Deutlich seltener tritt die Chromosomen-Explosion hingegen bei Magenkrebs sowie Speicheldrüsen- und Eierstocktumoren auf.
In einigen Fällen könnten die Wissenschaftler überdies nachweisen, dass beim Chromosomenschäden diese Chromosomenschäden vorhanden waren, dass aber die Metastasen und wiederkehrenden Tumore keine nachweisbare Chromothripsis besitzen. Laut Voronina „hat das auch potenzielle Auswirkungen auf die Krebstherapie, weil mit der Chromothripsis verknüpfte Ansatzpunkte dann nicht überall vorhanden sind.“
Die Studienergebnisse bestätigen außerdem, dass durch Chromothripsis ausgelöste Tumore deutlich aggressiver sind als Tumore, die durch langsame Mutationen und DNA-Schäden entstehen. Dies liegt vor allem an der häufiger auftretenden Bildung von Metastasen, die die Überlebenschancen für Patienten stark reduzieren. Ausgelöst wird dies sehr wahrscheinlich durch das falsche Zusammensetzen von Genstücken als Folge der Chromosomen-Explosion.
Laut den Wissenschaftler können die neuen Erkenntnisse bei der Behandlung von Krebs helfen und gezieltere Therapien ermöglichen, weil man durch die nun bekannten Genveränderungen leichter abschätzen kann, welche Schwachstellen ein Tumor hat und welche Mittel gegen ihn helfen könnten.
Nature Communications, doi: 10.1038/s41467-020-16134-7