Dennis L.
Die Medizinbranche ist in Alarmbereitschaft: Ärzte, Krankenhäuser und Produzenten melden eine bevorstehende Knappheit bei den Lieferungen von Medizinprodukten. Die Ursache dafür liegt in den verschärften Prüfvorschriften, die von der Europäischen Kommission erlassen wurden. Trotz Bemühungen des Gesundheitsministers Lauterbach, scheint es keine Lösung in Sicht zu sein.
Berlin (Deutschland). Wenn ein Neugeborenes mit einem schwerwiegenden Herzfehler geboren wird, wie beispielsweise vertauschten Arterien, ist eine schnelle Behandlung von entscheidender Bedeutung. Ein Ballonkatheter wird eingesetzt, um den Abstand zwischen dem rechten und linken Vorhof zu erweitern - ein theoretisch einfacher Eingriff. In der Praxis jedoch wird es zunehmend zu einem Problem, da das notwendige OP-Material fehlt. Professor Matthias Gorenflo, ärztlicher Direktor an der Klinik für Kinderkardiologie und angeborene Herzfehler am Universitätsklinikum Heidelberg, beklagt, dass "es einzelne Produkte gibt, die im Moment praktisch nicht verfügbar sind". In solchen Fällen müsse man sich an Kollegen in anderen Kliniken wenden, um zu fragen, "ob sie noch etwas übrig haben".
Gerald Gaß ist bestens vertraut mit den Klagen und der Notwendigkeit von Tauschgeschäften. Als Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) berichtet er: "Wir erhalten bereits alarmierende Nachrichten aus deutschen Krankenhäusern über fehlende Medizinprodukte, insbesondere bei Nischenprodukten, auch für Kinder und Neugeborene." Die Situation verschlechtert sich "von Tag zu Tag". Die bisher für Neugeborene verwendeten Ballonkatheter sind nicht mehr erhältlich. Gaß weiß, dass die Krankenhäuser "auf Lagerbestände und eine einzige unzureichende Alternative angewiesen sind". Der Kardiologe Gorenflo bezeichnet die Medical Device Regulation (MDR) der EU als "ein totes Pferd, das man besser nicht mehr reitet“.
Schlecht ausgeführt, aber mit guten Absichten. Diese strengeren Vorschriften sind eine Folge des Skandals mit Brustimplantaten. Das Ziel ist es, mehr klinische Daten und mehr Überwachung zu erhalten. In Deutschland werden Medikamente vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zugelassen. Die Medizinprodukte müssen ein Prüfverfahren bei privaten Anbietern wie TÜV oder Dekra durchlaufen und von ihnen zertifiziert werden. Diese Zertifizierungsstellen müssen nun gemäß den EU-Vorgaben neu bezeichnet werden. Dies ist bereits an sich aufwendig. Tatsächlich sind nach Angaben von Verbandsangaben von zuletzt 59 nur noch 29 Stellen übrig geblieben.
Einige kleine Zertifizierungsstellen sind verschwunden und bei den verbleibenden gibt es Kapazitätsengpässe, da sich auch der Prüfaufwand selbst erhöht hat. Daher bereinigen Unternehmen ihr Produktportfolio, wenn es unwirtschaftlich wird. Laut einer Umfrage der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) im April sind bereits heute hunderte Produkte nicht mehr verfügbar.
Aktuell scheint es, dass sich einige medizinische Produkte am besten über das Internet beziehen lassen. So lassen sich einige aktuell gefragte medizinische Produkte bei Medmasters bestellen, einem Fachversand für verschiedene medizinische Bereiche wie Praxisbedarf, Urologie oder auch Anatomie.
Es ist erstaunlich, dass sowohl Bestands- als auch Nischenprodukte den gleichen hohen Anforderungen unterworfen sind wie ein neues Instrument. Dies führt zur absurden Situation, dass ein Hüftimplantat, das seit 20 Jahren auf dem Markt ist, vollständig neu zertifiziert werden muss, kritisiert Manfred Beeres, Sprecher des Bundesverbandes Medizinprodukte (BVMed).
Laut Professor Gorenflo verläuft die Entwicklung still. "Wenn ein Hersteller eine Produktlinie beendet, werden die Produkte eingestellt. Man bemerkt das erst, wenn man sie nachbestellen will, und dann sind sie nicht mehr verfügbar." Die Übergangsfrist für die EU-Verordnung endet im Mai 2024 und je näher dieser Termin rückt, desto alarmierender werden die Stimmen. Professorin Ruth Kirschner-Hermanns, Urologin am Uniklinikum Bonn, warnt: "Die Ärzte werden sich wundern, was sie bald alles auf den OP-Tischen vermissen werden.“
Es besteht kein Zweifel daran, dass Kontrolle und Sicherheit von großer Bedeutung sind. Eine offensichtliche Überregulierung neuer Produkte kann jedoch nicht länger als Schutzmaßnahme für die Patienten begründet werden. Professor Wolfram Lamadé, stellvertretender Leiter eines Onkologischen Zentrums in Pforzheim, warnt: "Eine Einschränkung von Innovationen kann zu Todesfällen führen.“
DKG-Chef Gaß bemerkt seit einigen Wochen, dass die Sorgen ernst genommen werden, insbesondere bei einem Treffen der 27 EU-Gesundheitsminister in Brüssel. Trotzdem betont er: "Es reicht nicht, dass man die Sorgen ernst nimmt, es muss dringend gehandelt werden." Und fügt hinzu: "Wir dürfen die Sommerpause jetzt nicht ungenutzt verstreichen lassen.“
Gesundheitsminister Lauterbach hält sich politisch zurück. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der CDU-Abgeordneten Diana Stöcker gibt sein Ministerium zu, dass die Europäische Kommission derzeit gesetzgeberische Maßnahmen, wie eine Verlängerung der Übergangszeit, ablehnt, da dies die Probleme nicht lösen, sondern nur verlagern würde.
Das Ministerium versichert, dass Deutschland seine Unterstützung bei der Umsetzung praktischer Lösungen zugesichert hat. Es sieht jedoch nicht nach einer politischen Entwarnung aus. Es könnte sein, dass erst ein Vorfall passieren muss, um tätig zu werden. Auf einem Fachkongress sprach Kardiologe Gorenflo unverblümt: "Wenn sich nichts ändert, werden Menschen sterben."