Robert Klatt
Lesen- und Schreibenlernen sorgt für eine Umstrukturierung des Gehirns und verbessert auch in anderen Bereichen die Denkleistung.
Nijmegen (Niederlande). Laut dem aktuellen Stand der Forschung gehören Lesen und Schreiben, die vor weniger als 10.000 entstanden sind, im Verhältnis zur Entwicklung des Menschen zu den noch relativ jungen Kulturtechniken. Eine evolutionäre Anpassung des Gehirns an diese Alltagsfähigkeiten ist aufgrund des zu kleinen Zeitraums daher noch nicht erfolgt. Stattdessen nutzt der Mensch zum Lesen und Schreiben Bereiche des Gehirns, die eigentlich zur visuellen Erkennung von Gegenständen dienen. In der Hirnforschung vertreten einige Wissenschaftler daher die Ansicht, dass die neuen Lese- und Schreibfähigkeiten auf Kosten des visuellen Erkennens erlangt wurden.
Ob diese umstrittene Hypothese korrekt ist haben Wissenschaftler des Max-Planck-Institut für Psycholinguistik mithilfe von 29 erwachsenen Analphabeten untersucht. Laut der im Fachmagazin Science Advances veröffentlichten Studie erhielten die Probanden im Zuge des Experiments sechs Monate lang Unterricht im Lesen und Schreiben in der Devanagari-Schrift, die in ihrer Region in Nordindien genutzt wird.
Außerdem gab es zwei Kontrollgruppen, von denen eine aus Probanden bestand, die bereits seit Jahren lesen und schreiben können während die zweite Kontrollgruppe aus Analphabeten bestand, die während des Experiments keinen Unterricht erhielten.
Während der sechsmonatigen Studie untersuchten die Wissenschaftler mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) ob durch die neuen Fähigkeiten Veränderungen am Gehirn auftraten. Dabei wurde vor allem beobachtet ob das Gehirn anders auf nicht-orthografische visuelle Reize wie zum Beispiel Gesichter und Schriftzeichen der Devanagari-Sprache reagiert.
Die Studienergebnisse widerlegen eindeutig die These, dass Lesen und Schreiben das visuelle Erkennen verschlechtert. Die neuen Fähigkeit sorgen zwar dafür, dass Regionen des linken Temporallappens empfindlicher auf orthografische Reize reagieren und dass Netzwerke aus Neuronen sich anpassen, dies verursacht aber keinen parallelem Abbau anderer Funktionen.
Laut Alexis Hervais-Adelman, Autorin der Studie zeigen die Ergebnisse, dass „Beim Lesen- und Schreibenlernen bereits existierende Fähigkeiten zur Repräsentation von Objekten recycelt werden, aber offenbar ohne zerstörerischen Wettbewerb.“
Außerdem zeigt die Studie, dass Lesen- und Schreibenlernen nützliche Synergieeffekte auslösen, die bei alphabetisierten Personen dazu führt, dass sie auch Gesichter und andere komplexe Objekte besser erkennen. Verantwortlich dafür ist laut den Wissenschaftlern, dass beide Fähigkeiten dieselben Bereiche des Gehirns beanspruchen.
Falk Huettig, Co-Autor der Studie erklärt, dass „Lesenlernen gut für uns ist, da es weit mehr als Hirnreaktionen auf Buchstaben und Sätze schärft und einen generell positiven Einfluss auf unser visuelles System hat.“ Welche Prozesse beim Lesen- und Schreibenlernen im Gehirn genau ablaufen und ob es Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen gibt sollen weitere Studien zeigen.
Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.aax0262