Robert Klatt
Masern sorgen dafür, dass ein großer Teil der Antikörper des Immunsystems zerstört werden. Dies macht den Menschen nicht nur empfindlicher für eine Reihe von Krankheiten, sondern löscht auch den Immunschutz früherer Impfungen. Besonders bei Kindern ist eine Impfung gegen Masern daher essentiell.
Boston (U.S.A.). Laut einer Statistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben pro Jahr etwa 100.000 Menschen an Masern. Auch in Europa ist die hochansteckenden Virusinfektion trotz wirksamer Impfungen wieder auf dem Vormarsch. Während im Jahr 2009 nur 7.884 Maserninfektionen in Europa gemeldet wurden, lag die Anzahl an Infektionen im Jahr 2018 bei 82.596. Den höchsten Anteil daran trägt die Ukraine, in der laut der WHO (PFD-Link) von einer Million Einwohner 1.200 Personen innerhalb eines Jahres an Masern erkrankten. In Deutschland kamen auf eine Million Einwohner hingegen nur 6,46 Maserninfektionen.
Neben den Todesfällen, die unmittelbar durch Masern ausgelöst werden, hat die Medizin schon seit längerem beobachtet, dass Masernpatienten nach ihrer Heilung oft unter weiteren Krankheiten leiden, darunter auch Erkrankungen, gegen die sie zuvor eine Impfung erhalten haben. In der Wissenschaft wurde deshalb vermutet, dass eine Maserninfektion das Immunsystem des Menschen langfristig schwächt.
Warum Masern auch nach der Heilung einen so großen Einfluss auf das Immunsystem haben, haben nun Forschungsgruppen von der Harvard Medical School (HMS) in Boston und des Wellcome Sanger Institute in Cambridge untersucht. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse der Studien, die Blutproben von 77 niederländischen Schulkindern analysierten, in den Fachmagazinen Science und Science Imunology. Die Blutproben der 77 Probanden wurden vor der Maserninfektion und etwa zwei Monate der Heilung entnommen. Zur Kontrolle der Studienergebnisse untersuchten die Wissenschaftler außerdem Blutproblem von geimpften und nicht geimpften Kindern, die nicht an Masern erkrankt waren.
Die Wissenschaftler um Michael Mina von der HMS haben die Blutproben mithilfe des VirScan-Testverfahrens auf Antikörper gegen verschiedene Viren und Bakterien untersucht. Das Immunsystem bildet diese Antikörper entweder nach einer Impfung oder nach dem Kontakt mit einem Krankheitserreger. Es zeigte sich dabei, dass die Anzahl der Antikörper bei Kindern nach einer Maserninfektion deutlich geringer wurde. Je nach Abwehrmolekül gingen durch die Masern elf bis 73 Prozent der Antikörper verloren. Als Folge dessen kann der Körper Erreger, gegen die er eigentlich geschützt wäre, nicht mehr abwehren. Tierversuche mit Makaken zeigten, dass die Schwächung des Immunsystems mindestens fünf Monate nach der Maserninfektion noch immer vorhanden ist.
Wie Mina erklärt „ist unsere Immunität gegen Erreger vergleichbar mit einer Sammlung von Steckbriefen der meistgesuchten Kriminellen, doch dann reißt jemand Löcher in die Fotos und macht es damit schwer, die Kriminellen noch zu erkennen.“ Die Maserninfektion sorgt also dafür, dass das Immungedächtnis des Menschen Informationen verliert und ihn somit anfälliger für Infektionen macht.
Wie dieser Prozess genau abläuft haben die Forscher um Velislava Petrova vom Wellcome Trust Sanger Institute, das auf die Erforschung des Genoms spezialisiert ist, herausgefunden. Dazu wurden die Gene der B-Gedächtniszellen aus dem Blut der Kinder analysiert. B-Gedächtniszellen sind Abwehrzellen des Immunsystems, die Informationen über bekannte Krankheitserreger speichern und die Herstellung der dafür notwendigen Antikörper steuern. Wie die Analyse zeigte, zerstören Masernviren B-Zellen, die vom Körper bereits auf bestimmte Erreger geprägt wurden. Zum Ausgleich produziert der Körper daraufhin neue B-Zellen, in denen jedoch noch keine krankheitsspezifischen Informationen enthalten sind.
Wie Colin Russell, Co-Autor erklärt „hat die Wissenschaft damit zum ersten Mal gesehen, dass die Masern das Immunsystem quasi auf das Stadium eines Säuglings zurücksetzen.“ Der Forscher von der Universität Amsterdam beschreibt diesen Prozess als „immunologische Amnesie“, die auch dazu führt, dass der Impfschutz gegen andere Krankheiten wieder aus dem Körper gelöscht wird.
Stephen Elledge, Co-Autor vom Howard Hughes Medical Institute in Boston erklärt, dass „das Masernvirus demnach weit schädlicher ist, als uns klar war.“ Eine Impfung gegen Masern ist laut den Wissenschaftlern daher besonders bei Kindern von hoher Wichtigkeit. Eine bereits im Jahr 2015 im Fachmagazin JAMA veröffentlichte Studie belegt, dass eine Impfung gegen Masern nicht nur dafür sorgt, dass die Antikörper und B-Zellen geschützt werden, sondern auch, dass der Körper deren Anzahl noch erhöht.
Russell konstatiert, dass „die Studie eine große Bedeutung für die öffentliche Gesundheit hat, denn sie zeigt, dass die Masernimpfung nicht nur vor dem Masernvirus schützt, sondern auch vor anderen Infektionskrankheiten.“ Masernimpfungen könnten so nicht nur die etwa 100.000 Maserntoten pro Jahr verhindern, sondern zusätzlich auch weitere hunderttausende Todesfälle durch Folgeerkrankungen aufgrund des geschwächten Immunsystems ersparen.
Science, doi: 10.1126/science.aay6485
Science Imunology, doi: 10.1126/sciimmunol.aay6125
JAMA, doi: 10.1001/jama.2015.3077