Robert Klatt
Ein bereits zugelassenes Medikament kann durch Schlafmangel hervorgerufenen Gedächtnisverlust kompensieren und vergessene Erinnerungen zurückholen. Die Entdeckung kann womöglich Menschen mit altersbedingten Gedächtnisproblemen oder Alzheimer helfen.
Groningen (Niederlande). Schlafentzug schwächt das Gedächtnis und kann zum Verlust von Erinnerungen führen. Eine Studie der University of Groningen zeigt nun, dass durch Schlafmangel verlorene Erinnerungen sich bei Mäusen zurückholen lassen. Ob die Methode auch bei Menschen funktioniert, ist noch nicht bekannt.
Laut der Publikation im Fachmagazin Current Biology ließ das Team um den Neurowissenschaftler Robbert Havekes Labormäuse eine Umgebung mit unterschiedlichen Gegenständen erkunden. Anschließend veränderten die Forscher die Position eines Gegenstands in Abwesenheit der Tiere. Nach einigen Tagen kehrten die Mäuse dann zurück. Das natürliche Verhalten der Mäuse führt dazu, dass diese sich auf den veränderten Gegenstand fokussieren. Wenn dies nicht der Fall ist, gilt es in der Forschung als deutlicher Hinweis darauf, dass die Maus sich nicht mehr an ursprünglichen Aufbau erinnert.
In der Gruppe, die zwischen der ersten und zweiten Erkundungsphase schlafen durfte, kam es kaum zu Erinnerungslücken. Mäuse aus der zweiten Gruppe, die zwischen den Erkundungsphasen nicht schlafen konnte, hatten hingegen deutliche Erinnerungslücken. Das Experiment belegt also, dass Schlafentzug sich auf das Erinnerungsvermögen auswirken kann. Gespeichert werden solche räumlichen Erinnerungen im Gehirn im Hippocampus.
Die Wissenschaftler nutzten deshalb die Optogenetik dazu, um die Zellen des Hippocampus gezielt anzuregen. Es handelt sich dabei um eine Methode, bei der die Nervenzellen gentechnisch so verändert, dass diese ein lichtempfindliches Eiweiß erzeugen, das von außen mit einem Laser aktiviert werden kann.
Anschließend führten die Forscher das Experiment mit den beiden Mäusegruppen erneut durch. Vor dem Wiedererkennungstest stimulierten sie aber die Bereiche im Hippocampus, die für räumlichen Erinnerungen verantwortlich sind. Anschließend konnten auch die Mäuse mit Schlafentzug sich an die vermeintlich vergessenen Erinnerungen erinnern. Bei Menschen kann diese Methode aber nicht verwendet werden, weil die dazu erforderlichen gentechnischen Eingriffe nicht zugelassen sind.
Die Forscher entdeckten jedoch eine weitere Behandlungsoption, die Erinnerungen reaktivieren kann. Das bereits zugelassene Medikament Roflumilast (Daxas) wird normalerweise bei Menschen mit der Lungenkrankheit COPD verwendet. Erhielten es die Mäuse mit Schlafentzug vor dem Wiedererkennungstest, war die Wirkung jedoch nahezu identisch mit der optogenetischen Stimulierung und die Tiere konnte sich erinnern.
Einzeln führen die Stimulierung und das Medikament zu einer temporären Auffrischung der Erinnerungen. Eine Kombination der Behandlungsmethoden hat eine noch größere Wirkung und führt dazu, dass sich Erinnerungen verfestigen. Konkret hat die Kombination bei den Mäusen dazu geführt, dass diese mehrere Tage lang an die Anordnung der Objekte erinnern konnten, ohne dass vor dem Wiedererkennungstest eine weitere Stimulation oder Medikamentengabe erfolgte.
Die Studie belegt somit, dass Erinnerungen durch Schlafentzug nicht wirklich verloren gehen, sondern lediglich nicht abgerufen werden können. Das Gehirn speichert also Informationen, kann auf diese aber nicht immer zugreifen. Weil ein bereits zugelassenes Medikament vermeintlich vergessene Erinnerungen wieder zugänglich machen kann, eröffnen sich neue Optionen für die Medizin.
„Es könnte möglich sein, die Erinnerungen von Menschen mit altersbedingten Gedächtnisproblemen oder Alzheimer im frühen Stadium aufzufrischen. Und vielleicht könnten wir bestimmte Erinnerungen auch permanent verfügbar machen. Aber man wird sehen.“
Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2022.12.006