Robert Klatt
Unfreiwillige sexuelle Unlust bei Frauen und Männern kann bisher kaum behandelt werden. Nun haben Forscher ein Mittel gegen die Hypoactive Sexual Desire Disorder (HSDD) entdeckt.
London (England). Die sexuelle Lust unterscheidet sich von Mensch zu Mensch stark. Ob es zu sexuellen Fantasien und Verlangen kommt, ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig, darunter psychische Faktoren wie Stress, Geschlechtshormone und bei Frauen vom Zyklus. Gibt es für die unfreiwillig ausbleibende Libido keine organischen Ursachen und kommt es dadurch zu zwischenmenschliche Schwierigkeiten oder Unwohlsein, spricht die Medizin von der Hypoactive Sexual Desire Disorder (HSDD).
An dieser Krankheit, bei der anhaltend oder wiederkehrend zu einem Mangel an sexuellem Verlangen kommt, leiden global zehn Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer. Wie Alexander Comninos erklärt, gibt es trotz der großen Anzahl betroffener Menschen bisher kaum Behandlungsansätze.
„Geringes sexuelles Verlangen kann sehr belastend sein und so zu HSDD führen. Dies kann sich sehr nachteilig auf Beziehungen, die psychische Gesundheit und die Fruchtbarkeit auswirken. Obwohl HSDD relativ häufig vorkommt, sind die Behandlungsmöglichkeiten für Frauen begrenzt, haben erhebliche Nebenwirkungen und in einigen Fällen kann es sogar schädlich sein, es überhaupt zu versuchen. Und leider sind diese Behandlungen auch nur begrenzt wirksam. Für Männer gibt es derzeit keine zugelassenen Behandlungen und es sind auch keine in Sicht. Daher besteht ein echter ungedeckter Bedarf an neuen, sichereren und wirksameren Therapien für diese belastende Erkrankung sowohl für Frauen als auch für Männer, die eine Behandlung suchen.“
Wissenschaftler der Imperial College London haben nun zwei Studien publiziert, die untersucht haben, ob das körpereigene Hormon Kisspeptin gegen die sexuelle Unlust hilft. Kisspeptin wird im menschlichen Gehirn freigesetzt und fördert die Ausschüttung weiterer Sexualhormone. Es ist unter anderem für den Menstruationszyklus bei Frauen und die Regulierung der Pubertät bei Frauen und Männern verantwortlich.
An einer Studie nahmen 32 Frauen und an einer Studie 32 Männer teil. Die Probanden litten allen unter HSDD und die Frauen befanden sich noch nicht in der Menopause. Laut der Publikation im Fachmagazin JAMA Network Open wurden die Frauen im Abstand von mindestens einem Monat zweimal untersucht. Bei den Männern erfolgte die Untersuchung laut der ebenfalls in Fachmagazin JAMA Network Open erschienenen Studie im Abstand von sieben Tagen.
Die Studienteilnehmer erhielten vor dem ersten Termin entweder das Hormon Kisspeptin oder ein Placebo per Injektion. Vor dem zweiten Termin wurde ihnen das jeweils andere Präparat verabreicht. Während der Termine zeigten die Forscher den Probanden neutrale und erotische Videos. Den Frauen wurden zusätzlich unterschiedlich attraktive Gesichter gezeigt. Währenddessen beobachten sie die Hirnaktivität der Teilnehmer und dokumentieren deren neurologische, physiologische und hormonelle Reaktionen.
Sowohl bei Frauen als auch Männern hat das Sexualhormon Kisspeptin die Hirnaktivität deutlich beeinflusst. Während die Frauen mit Kisspeptininjektion erotische Videos schauten, nahm unter anderem die Aktivität im Hippocampus zu. Andere Hirnregionen der Probandinnen reagierten primär auf attraktive männliche Gesichter. Bei den Männern nahm die Hirnaktivität vor allem beim Anschauen von Erotikvideos zu. Zudem zeigt eine Sekundäranalyse, dass es durch die Kisspeptininjektion zu einer signifikanten Zunahme der Penisschwellung kommt. Diese lag bis zu 56 Prozent über dem Placebo.
Die Studie zeigt laut den Autoren, dass Kisspeptin die Grundlage für die erste Behandlungsmöglichkeit für Männer mit HSDD ist. Auch für Frauen mit geringem sexuellen Verlangen eignet sich das Hormon für eine pharmakologische Behandlung. Die Studien erbringen damit den ersten Nachweis dafür, dass Kisspeptin eine potenziell sichere und wirksame Therapie bei HSDD ermöglichen kann.
„Unsere beiden Studien liefern den Beweis für die Entwicklung von Kisspeptin-Behandlungen, da wir die ersten Beweise dafür liefern, dass Kisspeptin eine potenziell sichere und wirksame Therapie für Frauen und Männer ist, die unter einem geringen sexuellen Verlangen leiden. Bei Männern zeigen wir außerdem, dass Kisspeptin nicht nur im Gehirn, sondern auch im Penis positive Auswirkungen haben kann, indem es die Steifigkeit erhöht. Darüber hinaus wurde Kisspeptin sowohl von Frauen als auch von Männern gut vertragen, ohne dass über Nebenwirkungen berichtet wurde, was aus Sicht der Arzneimittelentwicklung entscheidend ist. Wir planen nun, die Dinge weiter voranzutreiben, um hoffentlich das Potenzial von Kisspeptin-Therapeutika bei psychosexuellen Störungen zu erkennen - sexuelle Probleme, die psychologischen Ursprungs sind, wie z. B. eine unerklärliche geringe Libido.“
JAMA Network Open, doi: 10.1001/jamanetworkopen.2022.36131
JAMA Network Open, doi: 10.1001/jamanetworkopen.2022.54313