Robert Klatt
Am Massetermuskel wurde eine zuvor unbekannter Muskelschicht entdeckt, die zur Stabilisierung des Kiefers beiträgt.
Basel (Schweiz). Die Anatomie des Menschen ist auch heute noch nicht vollständig erforscht. Wissenschaftler des Niederländischen Krebsinstituts (NKI) haben etwa erst Ende 2020 am Eingang der Eustachischen Röhre die zuvor unbekannten Tubarius-Drüsen entdeckt. Nun hat ein Team um Szilvia Mezey von der Universität Basel eine weitere anatomische Struktur bei den Kaumuskeln des Menschen gefunden, die die Medizin bisher übersehen hat.
Der Musculus masseter ist größte Muskelstrang zur Bewegung des Kiefers. Er verläuft vom Jochbein über die Wagen zum Unterkiefer. Laut den meisten aktuellen Lehrbüchern besteht der Massetermuskel aus zwei Schichten. Im Standardwerk „Gray’s Anatomy“ aus dem Jahr 1995 wurde der Muskel hingegen noch als dreischichtig beschrieben. Auch eine Studie aus dem Jahr 2003 kam zu dem Ergebnis, dass der Kaumuskel dreischichtig ist, weil die oberflächliche Schicht noch unterteilt werden kann.
„Angesichts dieser widersprüchlichen Beschreibungen wollten wir den Aufbau des Massetermuskels noch einmal umfassend untersuchen“, erklärt Jens Christoph Türp. Die Wissenschaftler der Universität Basel sezierten laut ihrer Publikation im Fachmagazin Annals of Anatomy deshalb die Kieferpartie von etwa 30 Toten. Die dabei entnommenen Gewebeproben analysierten sie mithilfe der Computertomografie.
Zusätzlich beobachten die Wissenschaftler mittels Magnetresonanz-Tomografie (MRT) den Massetermuskel eines lebenden Probanden in Bewegung.
Sie stellten dabei fest, dass die tiefe Schicht des Massetermuskels noch einmal unterteilt ist. Neben dem eigentlichen Kaumuskel existiert also noch eine zusätzliche Schicht. „Dieser tiefe Anteil des Massetermuskels lässt sich hinsichtlich seines Verlaufs und seiner Funktion klar von den beiden anderen Schichten unterscheiden“, erklärt Mezey. Dies wird unter anderem dadurch deutlich, dass die Muskelfasern dieser Schicht schräg zu den Muskelfasern der oberen Schicht liegen.
Die neuentdeckten Strukturen sind laut den Autoren deshalb ein eigenständiger Teil des Musculus masseter, der bisher übersehen wurde. „Unser Fund ist ein bisschen so, als hätten Zoologen eine neue Wirbeltierart entdeckt“, erklärt Türp. Die Muskelschicht verläuft vom hinteren Jochbeinfortsatz bis zum Koronoidfortsatz des Unterkiefers. Die Wissenschaftler bezeichnen den Muskel deshalb als Musculus masseter pars coronidea (coronoider Teil des Masseters).
„Von allen Teilen des Massetermuskels ist der coronoide Teil der einzige, der den Unterkiefer zurückziehen kann“, erklären die Wissenschaftler. Ohne den Muskel könnten Menschen ihren Unterkiefer also nicht vor und zurück bewegen. Außerdem ist der Muskel an der Stabilisierung des Unterkiefers beteiligt.
Annals of Anatomy, doi: 10.1016/j.aanat.2021.151879