Robert Klatt
Ein Molekül der Sonnenblume unterdrückt Schmerzen, ohne die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Der Wirkstoff konnte in Zukunft Opioide, von denen eine hohe Suchtgefahr und starke Nebenwirkungen ausgehen, ersetzen.
Wien (Österreich). Opioide, dies sind Derivate des aus dem Schlafmohn gewonnenen Opiums, binden sich an den μ-Opioid-Rezeptor im Gehirn und Nervensystem und unterdrücken dadurch Schmerzen. In der Medizin sind Opioide trotz ihrer negativen Effekte wie der hohen Suchtgefahr und des Risikos der Atemlähmung deshalb noch immer der am meisten verwendete Wirkstoff zur Behandlung von starken Schmerzen.
Um eine Behandlung von Schmerzen mit weniger Nebenwirkungen zu ermöglichen, sucht die Wissenschaft aber auch nach Alternativen für Opioide. Dabei wurde unter anderem entdeckt, dass das Gift des Kugelfischs Tetrodoxin sowie das aus Pilzen gewonnene Penicillium-Art MST-MF667 sich zur Behandlung von Schmerzen eignen. Nun haben Forscher vom Institut für Pharmakologie der MedUni Wien in Kooperation mit der University of Queensland und der Flinders University ein weiteres natürliches Schmerzmittel identifiziert.
Laut ihrer Publikation im Journal of Medicinal Chemistry konzentrierte sich das Team um Edin Muratspahic dabei auf Wirkstoffe, die am Kappa-Opioid-Rezeptor (KOR) andocken. Die Wirkung ist fast identisch mit der Blockierung des μ-Opioid-Rezeptors, unterdrückt also auch Schmerzen, verursacht dabei aber keine euphorisierenden Gefühle und löst somit auch keine Suchtgefahr aus. Problematisch ist aber, dass Wirkstoffe, die sich im Gehirn an den Kappa-Opioid-Rezeptor binden, zu negativen Emotionen, Schläfrigkeit und sogar Halluzinationen führen können.
Die Wissenschaftler suchten deshalb nach einem Wirkstoff, der die Blut-Hirn-Schranke nicht überwindet und nur an die Kappa-Opioid-Rezeptoren im Körper andockt. Als Basis ihrer Forschungsarbeit nutzte das Team Berichte aus der traditionellen Medizin, laut denen sich Sonnenblumenextrakt zur Behandlung von Schmerzen und Entzündungen eignet.
Im ersten Schritt isolierten die Wissenschaftler deshalb das Peptid SFT-1, eines der Hauptbestandteile des Sonnenblumenextrakts und untersuchten, ob sich dieses an Kappa-Opioid-Rezeptoren bindet. Es stellte sich dabei heraus, dass das Sonnenblumenpeptid sich tatsächlich an den Rezeptor bindet und dadurch die Signalübertragung blockiert. Um die Wirkung noch zu verbessern, modifizierten die Wissenschaftler die ringförmige Proteinkette anschließend, in dem sie ein Stück eines körpereigenen KOR-Wirkstoffs in das Peptid einfügten.
Es entstand so der neue Wirkstoff Helianorphin-19, der die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann aber trotzdem effektiv an den Kappa-Rezeptor andockt. „Dieses Peptid ist äußerst stabil, hochpotent und wirkt restriktiv in der Körperperipherie. Daher sind bei Anwendung auch weniger der typischen Nebenwirkungen von Opioiden zu erwarten“, erklärt Christian Gruber. Eine Verabreichung von Helianorphin-19 beim Menschen wäre prinzipiell oral möglich, weil das Molekül laut Tests unempfindlich gegenüber Magensäure ist.
Bei Versuchen mit Mäusen, die einen überempfindlichen Darm hatten, untersuchten die Wissenschaftler wie selektiv Helianorphin-19 gegen Schmerzen wirkt. Dabei stellten sie fest, dass Helianorphin-19 die bei Schmerzen typische Dehnung des Darms hemmt. Bei der Kontrollgruppe, die nicht mit dem modifizierte Sonnenblumen-Peptid behandelt wurde, blieb die Schmerzreaktion hingegen unverändert.
Auch eine Analyse zur Selektivität des Wirkstoffs lieferte positive Ergebnisse. Helianorphin-19 blockiert demnach nur die Schmerzweiterleitung, löst aber nicht die Reaktionskaskaden aus, die für die typischen Opioid-Nebenwirkungen verantwortlich sind. Bestätigt wurde dies durch Verhaltenstests, bei denen keinerlei Indizien für eine berauschende Wirkung von Helianorphin-19 gefunden wurde.
Die Ergebnisse zeigen laut den Wissenschaftler, dass das modifizierte Sonnenblumen-Peptid in Zukunft als Basis neuer Medikament dienen könnte. „Dieser Wirkstoff erwies sich als unser Top-Kandidat als mögliches neuartiges Schmerzmittel, besonders für Schmerzen im Magen-Darm-Trakt oder in den peripheren Organen“, erklärt Gruber. Denkbar wäre die Anwendung vor allem bei entzündlichen Darmerkrankungen.
Journal of Medicinal Chemistry, doi: 10.1021/acs.jmedchem.1c00158