Individuum vs. Kollektiv

So beeinflussen kulturelle Unterschiede die Covid-19-Sterblichkeit

 Robert Klatt

Menschen während der Covid-19-Pandemie )kcotS ebodAartapmat(Foto: © 

In den U.S.A. war die Covid-19-Sterblichkeitsrate fünf- bis siebenmal höher als in ostasiatischen Ländern. Der große Unterschied wurde durch kulturelle Normen verursacht. Im Westen überwiegt demnach der Individualismus und in Ostasien der Kollektivismus, der während der Covid-19-Pandemie vorteilhafter war.

Stanford (U.S.A.). In den U.S.A. war die Covid-19-Sterblichkeitsrate etwa fünf- bis siebenmal höher als in Taiwan, Südkorea und Japan, obwohl die Länder alle über ein hoch entwickeltes Gesundheitssystem verfügen. Forscher der Stanford University haben nun eine Studie publiziert, laut der die unterschiedlich hohen Sterblichkeitsraten durch kulturelle Unterschiede entstanden sind. Die sogenannten „kulturellen Defaults“, darunter verwurzelten Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen einer Gesellschaft, haben demnach erheblich beeinflusst, wie die Personen in den Ländern auf die Covid-19-Pandemie reagiert haben.

Laut der Publikation im Fachmagazin Psychological Science in the Public Interest zeigt die Studie, dass in den U.S.A. der Individualismus einen hohen Stellenwert hat und dass das Individuum über der Gemeinschaft steht. In den untersuchten ostasiatischen Ländern überwiegt hingegen der Kollektivismus, bei dem die Gesellschaft über dem individuellen Menschen steht. Diese kulturelle Einstellung hat dazu geführt, dass die Covid-19-Sterblichkeitsrate geringer war als in den U.S.A. und vielen anderen westlichen Staaten.

„Wir haben das Konzept der kulturellen Defaults als eine bisher wenig beachtete Ursache für die dramatischen Unterschiede in den COVID-19-Sterberaten zwischen den USA und ostasiatischen Ländern eingeführt. Viele typisch amerikanische Einstellungen wie Optimismus und individuelle Entscheidungsfreiheit, die uns normalerweise zugutekommen, waren in der Pandemie nicht von Vorteil.“

Laut den Forschern sind kulturelle Defaults keine festen Eigenschaften einer Person, sondern werden durch gesellschaftliche Institutionen, Medien und soziale Normen erschaffen.

„Indem wir aufzeigen, dass kulturelle Defaults das Verhalten beeinflussen, hoffen wir, dass unsere Studie Entscheidungsträger dabei unterstützt, aus den Ereignissen der Pandemie zu lernen und künftige Krisen besser zu bewältigen.“

Sechs kulturelle Unterschiede haben Covid-19-Sterblichkeit beeinflusst

Die Wissenschaftler haben für ihre Studie jahrzehntelange Studien zur Kulturpsychologie analysiert und die Ergebnisse mit offiziellen Aussagen von Regierungs- und Organisationsvertretern aus den unterschiedlichen Ländern verknüpft. Sie konnten so sechs entscheidende Gegensätze identifizieren.

Als Beispiel nennen die Forscher den unterschiedlichen Umgang mit Risiken. In den U.S.A. haben viele Menschen geglaubt, dass Covid-19 für sie persönlich keine Gefahr ist. In Ostasien haben die meisten Menschen hingegen bereits zu Beginn der Covid-19-Pandemie akzeptiert, dass die Krankheit alle Menschen, also auch sie selbst, treffen kann.

Diese unterschiedlichen Einstellungen haben die Forscher auch in öffentlichen Aussagen von Entscheidungsträgern wiedergefunden, darunter etwa Anthony Fauci, der ehemalige Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID).

„Man muss es ernst nehmen, aber es ist keine große Bedrohung für die Menschen in den U.S.A.“

Der damalige japanische Premierminister Shinzō Abe äußerte sich hingegen bereits zu Beginn der Pandemie deutlich anders.

„Gegen einen unsichtbaren und schwer fassbaren Feind zu kämpfen, ist nicht einfach. Dies ist mit Sicherheit nicht nur das Problem anderer.“

Zusammenfassend erklären die Forscher, dass diese kulturellen Unterschiede zwischen Ostasien und den U.S.A. starke Auswirkungen auf die Maßnahmen während der Covid-19-Pandemie hatten. Infektionskrankheiten stehen demnach im Gegensatz zum Ideal der individuellen Unabhängigkeit in den U.S.A. In Ostasien ist der Gemeinschaftssinn hingegen wichtiger und die Menschen hatten ein stärkeres Bewusstsein dafür, wie ihr individuelles Handeln sich auf andere Menschen und eine mögliche Infektion mit SARS-CoV-2 auswirkt.

Psychological Science in the Public Interest, doi: 10.1177/15291006241277810

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