Robert Klatt
Das Vergessen von Erinnerungen ist kein Fehler, sondern eine spezielle Form des Lernens. Der Mensch kann sich dadurch besser an die sich ändernde Welt anpassen und bessere Entscheidungen treffen.
Dublin (Irland). In der Wissenschaft existiert seit Längerem die These, dass das Vergessen von Erinnerungen kein Fehler ist, sondern auf Umweltfeedback und Vorhersehbarkeit resultiert. Das Gehirn könnte Erinnerungen aus dem Gedächtnis löschen, um sich an ständig wechselnde Umgebungen anzupassen. Menschen könnten sich demnach durch das Vergessen von nicht mehr relevanten Erinnerungen besser an die sich ändernde Welt anpassen und bessere Entscheidungen treffen.
Eine Studie des Trinity College Dublin kam nun zu dem Ergebnis, dass das Vergessen nicht negativ ist, sondern eine spezielle Art des Lernens darstellt. Dies stützt die These, dass das Vergessen von Erinnerungen kein Fehler, sondern eine nützliche Funktion des Gehirns ist.
Laut der Publikation im Fachmagazin Cell Reports haben die Forscher um Tomás Ryan die Wirkung des natürlichen, alltäglichen Vergessens von bestimmten Erinnerungen analysiert. Bei der sogenannten retroaktiven Interferenz können verschiedene, zeitlich nahe beieinander liegende Erlebnisse zum Vergessen von kürzlich gebildeten Erinnerungen führen.
In den Experimenten wurden Mäuse darauf trainiert, ein bestimmtes Objekt mit einem Kontext zu assoziieren und dann dieses Objekt in einem neuen Kontext wiederzuerkennen. Allerdings vergaßen die Mäuse diese Assoziationen, wenn konkurrierende Erfahrungen mit der ersten Erinnerung kollidierten.
Um die Auswirkungen dieser Form des Vergessens auf das Gedächtnis selbst zu untersuchen, markierten die Neurowissenschaftler kontextspezifische Zellen (Engramme), die eine bestimmte Erinnerung speichern, im Gehirn der Tiere Mäuse genetisch. Sie beobachteten die Aktivierung dieser Zellen nach dem Vergessen.
Mit der Optogenetik konnten sie feststellen, dass die Stimulation der kontextspezifische Gehirnzellen mit Licht die scheinbar verlorenen Erinnerungen wiederherstellen kann. Zudem konnten, wenn den Mäusen neue Erfahrungen präsentiert wurden, die mit den vergessenen Erinnerungen in Zusammenhang standen, die verlorenen Engramme natürlich wiederbelebt werden.
„Logischerweise tritt das Vergessen auf, wenn die Engram-Zellen nicht reaktiviert werden können. Es wird jedoch immer deutlicher, dass die Erinnerungen noch vorhanden sind, aber die spezifischen Ensembles nicht aktiviert werden und somit die Erinnerung nicht abgerufen wird. Es ist, als wären die Erinnerungen in einem Safe gespeichert, aber man kann sich den Code zum Öffnen nicht merken.“
Wie Livia Autore erklärt, stützen die Studienergebnisse somit die These, dass im Gehirn zwischen einzelnen Erinnerungen eine Konkurrenz besteht, die dazu führt, dass manche Daten aus dem Gedächtnis gelöscht werden.
„Unsere Ergebnisse unterstützen die Vorstellung, dass der Wettbewerb zwischen Engrammen das Abrufen beeinflusst und die vergessene Erinnerungsspur sowohl durch natürliche als auch künstliche Hinweise reaktiviert und mit neuen Informationen aktualisiert werden kann. Der ständige Fluss von Umweltveränderungen führt zur Kodierung mehrerer Engramme, die um ihre Konsolidierung und Expression konkurrieren.“
Cell Reports, doi: 10.1016/j.celrep.2023.112999