Robert Klatt
Schul- und Alltagsmathematik unterscheiden sich stark. Kinder mit einem zu abstrakten Unterricht können alltägliche Rechenaufgaben oft kaum lösen, während Kinder, die Alltagsaufgaben beherrschen, oft bei formalen Aufgaben scheitern.
Cambridge (U.S.A.). Der Mathematikunterricht steht oft in der Kritik, weil er zu abstrakt sein soll und Schüler nicht ausreichend auf den Alltag vorbereiten soll. Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (MIT) haben nun untersucht, ob diese These korrekt ist. Sie haben dazu eine Studie mit 1.436 Kindern, die in Indien regelmäßig auf Märkten arbeiten, und 471 indischen Kindern ohne Verkaufserfahrung durchgeführt.
Laut der Publikation im Fachmagazin Nature haben die Forscher zunächst bei 201 Kindern auf einem Markt in Kalkutta erfragt, wie teuer 800 Gramm Kartoffeln mit einem Kilogrammpreis von 20 Rupien sind und wie teuer 1,4 Kilogramm Zwiebeln mit einem Kilogrammpreis 15 Rupien sind. Anschließend haben sie nach den Gesamtkosten des Einkaufs gefragt und dem Kind einen 200-Rupien-Schein gegeben. Sie konnten so anhand von drei Rechnungen prüfen, ob das Kind leichte Alltagsaufgaben lösen kann.
Im nächsten Schritt haben die Forscher den Kindern mitgeteilt, dass sie eine Studie durchführen. Die Kinder sollten nun abstrakte Rechenaufgaben lösen, die im Mathematikunterricht für ihre Altersgruppe in Schulen unterrichtet werden. Nur die Hälfte der Kinder konnte die Aufgaben korrekt lösen. Ein weiteres Experiment mit Kindern auf einem Markt in Delhi kam zu nahezu gleichen Ergebnissen.
Die Forscher haben daraufhin noch 835 Kinder auf einem Markt befragt, um zu untersuchen, ob die guten Ergebnisse in den Alltagsaufgaben nicht auf bloßes Auswendiglernen, geringen Stress oder die hohe Vertrautheit mit den Berechnungen zurückgehen.
Ein weiteres Experiment mit 471 Schulkindern ohne Arbeitserfahrung auf einem Markt kam zu deutlich anderen Ergebnissen. Die Kinder erzielten bei den abstrakten Aufgaben, die sie aus ihrem Bildungsweg gut kannten, deutlich bessere Ergebnisse. Bei den alltagsnahen Marktmathematikaufgaben schnitten sie hingegen deutlich schlechter ab als die Kinder von den Märkten. Zudem nutzten sie bei diesen Aufgaben oft ineffiziente Berechnungsmethoden und kamen nur langsam zu Ergebnissen.
Laut den Forschern zeigen diese Ergebnisse, dass der Mathematikunterricht oft stark formalisiert ist und nur einen geringen Alltagsbezug hat. Sie empfehlen deshalb, dass zukünftige Lehrpläne die großen Differenzen zwischen intuitiver und formaler Mathematik mehr berücksichtigen sollten, damit das Bildungssystem die Kinder besser auf den Alltag und ihre kommenden Berufe vorbereitet.
Nature, doi: 10.1038/s41586-024-08502-w