Robert Klatt
Das Oberflächenschmelzen wurde bei Kristallen bereits 1842 entdeckt. Nun wurde diese physikalische Eigenschaft erstmals bei amorphen Gläsern nachgewiesen.
Konstanz (Deutschland). Die Physik hat bereits 1842 entdeckt, dass auch bei Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt auf der Oberfläche von Wassereis stets ein dünner Wasserfilm besteht. Dieser Wasserfilm sorgt unter anderem dafür, dass Schneebälle zusammenkleben und das Eis rutschig ist. Inzwischen wurde dieses Oberflächenschmelzen auch bei anderen kristallinen Festkörpern belegt. Es entsteht, weil sich die Moleküle innerhalb einer Grenzschicht in metastabilen Übergangszuständen von Sublimation und Gefrieren befinden.
Ob das Oberflächenschmelzen auch bei Gläsern vorkommt, war bisher unbekannt. Während Kristalle beim Erstarren ein geordnetes Gitter bilden, bleiben Gläser amorph. Außerdem unterscheidet sich laut der Röntgenstreuung bei Gläsern die Struktur der flüssigen Grenzschicht nicht vom festen Teil. Trotzdem ging die Theorie davon aus, dass es auch bei amorphen Gläser zum Oberflächenschmelzen kommt.
Li Tian und Clemens Bechinger von der Universität Konstanz haben nun erstmals das Oberflächenschmelzen bei Glas nachgewiesen. Laut ihrer Publikation im Fachmagazin Nature Communications verwendeten die Physiker für ihr Experiment ein kolloides Glas, weil die Atome von echtem Glas zu klein sind, um sie direkt zu untersuchen. Kolloides Glas besteht aus zwei bis drei Mikrometer großen Glaskügelchen, die sich in einem Lösungsmittel befinden. Das physikalische Verhalten des Materials ist identisch mit normalem Glas. Die Teilchen lassen sich jedoch unter einem Mikroskop gut beobachten.
Im Experiment wurde das kolloide Glas auf -262 Grad Celsius gekühlt. Anschließend wurde die Temperatur in 0,2 Gradschritten auf 259 Grad erhöht. Diese Temperatur liegt noch unter dem Gefrierpunkt des Materials. Die Physiker konnten dabei ein Oberflächenschmelzen beobachten.
„Ähnlich wie bei Kristallen beobachten wir ein Oberflächenschmelzen des Glases, das heißt, die Bildung eines flüssigen Films an der Oberfläche schon weit unterhalb der Schmelztemperatur.“
In den flüssigen Schichten bewegen sich die Teilchen deutlich schneller als im festen Teil des kolloiden Glas. Es ist somit belegt, dass auch bei amorphen Gläsern ein Oberflächenschmelzen auftritt.
Die Physiker entdeckten zudem, unter der flüssigen Oberflächenschicht einen zuvor nicht bekannten Zustand, die parallel die flüssigen und festkörperartigen Eigenschaften besitzt.
„Über dem Festkörper fanden wir eine unerwartete Region mit gleicher Dichte wie im Festkörper, aber viel schnellerer Teilchendynamik.“
Analysen zeigten, dass sich diese Schicht bildet, weil von der Oberfläche sich gasartig verhaltende Teilchen in tiefere Schichten wandern.
„Diese zehn Prozent der schnellsten Teilchen bilden verbundene Cluster und zeigen eine kooperative Dynamik.“
Am größten ist die Dicke diese unerwartete Schicht in der Nähe der Übergangstemperatur des Glases.
„Weil die Dicke dieser Schicht mehrere Dutzend Teilchendurchmesser erreichen kann, könnte diese Schicht einige bisher kaum verstandene Eigenschaften von dünnen Glasfilmen erklären, die in vielen technischen Anwendungen eingesetzt werden.“
Nature Communications, doi: 10.1038/s41467-022-34317-2