Kontinuum

Menschen verhalten sich in einer Massenpanik wie eine Flüssigkeit

 Robert Klatt

Menschenmenge wird zur Massenpanik )sennahoJ(Foto: © 

Bei Massenpaniken kommt es immer wieder zu Verletzten und Todesfällen. Nun wurde entdeckt, dass Menschen sich in großen Ansammlungen wie eine Flüssigkeit verhalten. Das neue Wissen soll dabei helfen, gefährliche Situationen bei Großveranstaltungen zu verhindern.

Lyon (Frankreich). In großen Menschenmengen entstehen immer wieder gefährliche Situationen mit Verletzten und Toten. Wissenschaftler der École normale supérieure de Lyon (ENS Lyon) haben deshalb untersucht, ob sich die Bewegungen der Menschen bei einer eventuellen Massenpanik prognostizieren lassen. Es sollen so neue Methoden entwickelt werden, mit denen gefährliche Situationen verhindert werden können.

Laut der Publikation im Fachmagazin Nature haben die Forscher für ihre Studie Aufzeichnungen der Sanfermin-Feiern im spanischen Pamplona analysiert. Diese wurden mit Kameras erstellt, die an zwei Stellen auf einem zentralen Platz des Festes in der Innenstadt angebracht waren und die Eröffnungszeremonien zwischen 2019 und 2024 gefilmt haben.

Menschenmenge bildet ein Kontinuum

An den Sanfermin-Feiern haben 2024 etwa anderthalb Millionen Menschen teilgenommen. Es kam dabei zu etwa 5.000 verletzten Personen, die unter anderem auf unkontrollierte kollektive Bewegungen zurückgehen.

„Dicht gedrängte Menschenmengen gehören zu den gefährlichsten Umgebungen in der modernen Gesellschaft.“

Die Videoaufnahmen haben die Forscher mit einem mathematischen Modell analysiert, das zeigt, dass Menschen sich in einer dichten Ansammlung wie eine Flüssigkeit verhalten. Eine Menschenmenge kann deshalb als Kontinuum betrachtet werden, also nicht als Ansammlung einzelner Moleküle, sondern als eine mathematisch beschreibbare Masse, deren Variablen sich permanent ändern.

Menschendichte nimmt schnell zu

Die Videos zeigen zudem, dass die Dichte kurz vor dem Beginn der Eröffnungszeremonien bei zwei Menschen pro Quadratmeter lag und während der Veranstaltung stellenweise auf bis zu neun Menschen pro Quadratmeter angestiegen ist. Es handelt sich laut den Forschern dabei um einen Grenzwert, bei dem Gruppen aus mehreren hundert Menschen sich spontan und unkontrolliert innerhalb der Massenansammlung wie eine Flüssigkeit verhalten.

Dabei kommt es dazu, dass sie sich in einem regelmäßigen Zeitintervall von 18 Sekunden wellenförmig bewegen, ohne dass dieses Verhalten durch äußere Reize ausgelöst wird. Obwohl Menschenmassen chaotisch aussehen, verhalten sie sich also ab einer bestimmten Dichte wie eine zähflüssige Flüssigkeit. Laut den Forschern können diese Erkenntnisse dabei helfen, Menschenströme besser zu verstehen und zu steuern, um gefährliche Situationen zu verhindern.

Dynamik von Kontakt- und Schubkräften

In einem Kommentar im Fachmagazin Nature erklärt Antoine Tordeux von der Bergische Universität Wuppertal, dass es bei der hohen Dichte zu Dynamiken kommt, die Unglücke auslösen können. Diese können verhindert werden, wenn der Grenzwert der Dichte, ab der die Dynamik von Kontakt- und Schubkräften überhandnimmt, nicht erreicht wird.

„Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass solche Menschenmengen nicht statisch sind, sondern große, koordinierte Bewegungen ausführen, die zu großen Schwankungen der lokalen Dichte führen.“

Die Forscher der ENS Lyon haben mit Aufnahmen der Duisburger Loveparade 2010, bei der 21 Menschen gestorben sind, untersucht, ob das bei den Sanfermin-Feiern beobachtete Verhalten auch bei anderen Großveranstaltungen auftritt. Sie haben dabei entdeckt, dass sich auch die Besucher der Loveparade 2010 ähnlich verhalten haben.

„Daher bieten unsere Ergebnisse eine praktische Strategie zur Vorhersage von gefährlichem Verhalten von Menschenmengen in engen Räumen.“

Laut den Wissenschaftlern lassen sich die Beobachtungen jedoch nur schwer generalisieren, weil bei vielen Großveranstaltungen Emotionen eine große Rolle spielen und die Dynamiken schnell verändern können.

„Die Tatsache, dass die gleiche Dynamik in Aufnahmen von San Fermín und der Loveparade zu sehen ist, legt jedoch nahe, dass die Ergebnisse für alle Menschenmengen gelten könnten.“

Nature, doi: 10.1038/s41586-024-08514-6

Nature, doi: 10.1038/d41586-025-00036-z

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