Robert Klatt
In der Quantenwelt können Atome undurchdringliche Barrieren überwinden. Nun wurde der quantenmechanische Tunneleffekt erstmals anhand einer chemische Tunnelreaktion experimentell beobachtet.
Innsbruck (Österreich). Es ist seit etwa 100 Jahren bekannt, dass Teilchen, auch wenn diese nicht die eigentlich dafür notwendige Energie besitzen, eine Barriere überwinden können. Dieser Tunneleffekt existiert, weil sich die Position und Geschwindigkeit eines Teilchens in der Quantenmechanik nicht gleichzeitig genau ermittelt lassen. Es ist also nur möglich, Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Position und Geschwindigkeit zu treffen. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann sich ein Atom daher auch hinter einer Energiebarriere befinden.
In der Technik wurde dieser quantenmechanische Tunneleffekt unter anderen in Flashspeichern und im Rastertunnelmikroskop verwendet. Zudem lässt sich der Alpha-Zerfall von Atomkernen mit ihm erklären.
Auch in Prozessen der Quantenchemie spielt der Tunneleffekt eine entscheidende Rolle, etwa beim Überwinden von chemischen Reaktionsbarrieren. Es ist jedoch problematisch, solche quantenmechanischen Tunnelreaktionen genau vorhersagen. Bei Reaktionen mit mehr als drei Teilchen ist die quantenmechanisch Beschreibung der Reaktion sehr schwierig und bei mehr als vier Teilchen praktisch nicht möglich.
Wissenschaftlern vom Institut für Ionenphysik und Angewandte Physik der Universität Innsbruck ist es nun erstmals gelungen, eine chemische Tunnelreaktion experimentell zu beobachten. Laut ihrer Publikation im Fachmagazin Nature untersuchte das Team um Roland Wester die Reaktionen zwischen geladenem atomaren Wasserstoff und molekularem Wasserstoff. Es handelt sich dabei um eine der grundlegendsten molekularen Reaktionen, die zudem vollständig quantenmechanisch beschrieben werden kann.
In ihrem Experiment verwendet verwendeten die Physiker Deuterium, ein Wasserstoffisotop, mit einem zusätzlichen Neutron im Kern. Dieses Isotop brachten sie als Ion, also negativ geladen, in eine auf rund minus 263 Grad Celsius abgekühlte Ionenfalle. Die Ionenfalle wurde dann mit Wasserstoffgas gefüllt, dessen Molekülen aus jeweils zwei Wasserstoffatomen bestehen.
Obwohl die Temperaturen in der Ionenfalle extrem niedrig waren, kam es zu vielen Kollisionen. Dabei fehlte den Deuterium-Ionen aber die Energie, die für eine konventionelle Reaktion mit den Wasserstoffmolekülen nötig wäre. Der quantenchemische Tunneleffekt sorgte aber dazu, dass es in seltenen Fällen dennoch zu Reaktionen kam. Bei diesen Reaktionen entstanden Wasserstoff-Deuterium-Moleküle und negativ geladene Wasserstoff-Ionen.
„Die Quantenmechanik erlaubt es, dass Teilchen die energetische Barriere durchbrechen und es zu einer Reaktion kommt. Wir ließen das Experiment rund 15 Minuten laufen – das ist erheblich länger als in den meisten Laboren weltweit, für diese Ionen technisch möglich ist.“
Im Anschluss an das 15-minütige Experiment ermittelten die Physiker die Anzahl der entstandenen Wasserstoff-Ionen, um abzuleiten, wie oft es zu einer chemischen Tunnelreaktion kam. Obwohl die Beobachtungszeit lang war, hat unter ein Prozent der Teilchen chemisch reagiert. Es handelt sich dabei um die bei Ionen langsamste je beobachtete Reaktion.
Laut Wester ist langsam jedoch relativ, weil die Reaktionsgeschwindigkeit auch davon abhängig ist, wie viel Wasserstoff als Reaktionspartner für die Deuterium-Ionen zur Verfügung stehen. Genauer ist es deshalb von der Reaktionswahrscheinlichkeit von einem Stoß aus 100 Milliarden zu reden. Es handelt sich bei diesem experimentell ermittelten Wert um denselben Wert, den Physiker bereits 2018 rechnerisch bestimmt haben. Das Experiment belegt also, dass ein genaues theoretisches Modell für den chemischen Tunneleffekt besteht.
Nature, doi: 10.1038/s41586-023-05727-z