Robert Klatt
Muskeldysmorphie, also das krankhafte Verlangen nach immer mehr Muskeln, wird oft durch Narzissmus ausgelöst. Die betroffenen Männer haben ein schwaches Selbstwertgefühl, das sie durch mehr Muskeln kompensieren wollen.
Stavanger (Norwegen). Muskeldysmorphie, die umgangssprachlich auch als Muskelsucht und Adonis-Komplex bezeichnet wird, ist eine körperdysmorphe Störung, die fast ausschließlich bei Männern auftritt. Die Betroffenen sehen sich selbst als zu schmächtig, obwohl sie eine überdurchschnittliche Muskulatur besitzen. Sie konzentrieren sich deshalb permanent darauf, weitere Muskeln aufzubauen. Dies resultiert oft in der Einnahme gefährlicher anaboler Steroide oder dem Vernachlässigen anderer Lebensbereiche.
Eine Studie der Universität Stavanger hat nun entdeckt, dass der Auslöser von Muskeldysmorphie oft Narzissmus ist. Der Wunsch nach immer mehr Muskeln könnte demnach ein Weg sein, um mit Unzulänglichkeitsgefühlen umzugehen.
An der im Fachmagazin Personality and Individual Differences publizierten Studie nahmen rund 500 Männer teil. Die Probanden waren im Mittel Ende 20 und trainierten seit mindestens einem Jahr regelmäßig ihre Kraft und Ausdauer. Den Wissenschaftler befragten die Studienteilnehmer zu Symptomen von Muskeldysmorphie, ihrer Beziehung zum Vater sowie zwei Arten von Narzissmus, dem vulnerablen (verletzlichen) Narzissmus, bei dem die Betroffenen unter einem schwachen Selbstwertgefühl leiden und überempfindliche auf Kritik und Ablehnung reagieren sowie dem grandiosen Narzissmus, bei dem es bei den Betroffenen zu Größenfantasien, Anspruchsdenken, Arroganz und Dominanzstreben kommt.
Die Analyse der Studiendaten zeigt einen starken positiven Zusammenhang von vulnerablem Narzissmus und Muskeldysmorphie. Die Männer möchten durch ihre Sucht also keine Größenfantasien ausleben, sondern durch ihren trainierten Körper ihr schwaches Selbstwertgefühl stabilisieren.
Zudem hängt die Muskelbesessenheit indirekt, über den vulnerablen Narzissmus, mit einer ungünstigen Beziehung zum Vater zusammen. Vorangegangene Untersuchungen haben aufgezeigt, dass beide Formen des Narzissmus mit verschiedenen elterlichen Erziehungsansätzen in Verbindung stehen: Die grandiose Ausprägung entsteht tendenziell, wenn Eltern dem Kind das Gefühl vermitteln, außergewöhnlich zu sein und eine bevorzugte Behandlung zu erhalten. Die vulnerable Ausprägung ist eher mit unzureichender elterlicher Zuwendung und Wertschätzung, häufiger Kritik und emotionaler Distanz verbunden. Hingegen fördert elterliche Wärme ein gesundes Selbstwertgefühl.
Die Wissenschaftler schlussfolgern daraus, dass eine problematische Vaterbeziehung zur Muskelbesessenheit beitragen kann und in einer Psychotherapie thematisiert werden sollte. Allerdings handelt es sich hierbei lediglich um eine Interpretation. Um Rückschlüsse auf Kausalität und Wirkung ziehen zu können, wären Langzeitstudien erforderlich, wie die Autoren selbst einräumen. In nachfolgenden Untersuchungen sollten zudem der Einfluss der Mutter und anderer enger Bezugspersonen berücksichtigt werden.
Personality and Individual Differences, doi: 10.1016/j.paid.2023.112173