Robert Klatt
Wissenschaftler haben ein fliegendes Windkraftwerk entwickelt, das auf bis zu 500 Meter aufsteigt. Die Leistung des Windes ist dort etwa achtmal höher als bei normalen Windkraftanlagen. In Zukunft könnte der Flugdrache Inseln und abgelegene Gebiete mit Strom versorgen.
St. Gallen (Schweiz). Kohlekraftwerke hatten laut einer Studie des britischen Mineralölunternehmens BP p.l.c im Jahr 2017 einen Anteil von 38 Prozent an der globalen Stromproduktion. Besonders Länder wie China und Indien, in denen der Energiebedarf in den kommenden Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung weiter zunehmen wird, errichten trotz des Klimawandels neue Kohlekraftwerke und erhöhen so die für Energieversorgung anfallenden CO2-Emissionen weiter. Eine Alternative wäre die verstärkte Nutzung der Windenergie, die laut einer im Jahr 2012 veröffentlichten Studie den gesamten Energiebedarf der Menschheit decken könnte. Trotzdem liegt aktuell auch im hochentwickelten Europa der Anteil an der Stromproduktion nur bei zwölf Prozent.
Wissenschaftler der Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) haben nun eine Alternative zu herkömmlichen fest installierten Windkraftanlagen vorgestellt, die aus einem Drachen besteht, der mit einem dünnen Seil mit dem Boden verbunden ist. Die Idee dazu hat Rolf Luchsinger nach eigener Aussage durch einen Kinderdrachen erhalten, der in hohen Flughöhen der Windkraft ausgesetzt war.
Die am Projekt beteiligten Forscher der EMPA gründeten bereits im Jahr 2013 das Unternehmen TwingTec, das die fliegenden Kraftwerke entwickelt und später auch kommerziell vermarkten soll. Im Gegensatz zu normalen Windkraftanlagen, die eine Nabenhöhe von etwa 120 Metern erreichen, steigt das fliegende Kraftwerk auf etwa 500 Meter Höhe auf und erreicht damit etwa achtmal stärkere Winde.
Beim Aufstieg in die Höhe bewegt sich der Drache in einer Kreisbahn und zieht währenddessen ein Halteseil von einer Rolle ab, deren Drehung einen Generator antreibt. Sobald der Drache seine maximale Flughöhe erreicht hat, sinkt er wieder ab und das Seil wird auf die Rolle aufgespult. Anschließend startet der Zyklus erneut. Wie Luchsinger erklärt, ist dabei „die große Herausforderung nicht das Fliegen an sich, sondern das automatisierte Starten und Landen.“
Ein Prototyp mit starren Flügeln und Klappen, die an die Steuerung eines Flugzeugs erinnern, wurde im Herbst 2018 erfolgreich für 30 Minuten getestet. Der Start und die Landung erfolgen mithilfe von kleinen Rotoren, die auch bei Drohnen verwendet werden. Die Spannweite des Prototyp T 28, der in Chasseral in der Westschweiz gestartet wurde, liegt bei drei Metern. Der Start vom Basisfahrzeug und die anschließende Landung wurden erfolgten autonom und ohne, dass dabei Schäden am fliegenden Kraftwerk entstanden.
Inzwischen wurde der nächste Prototyp T 29 fertiggestellt, der bis zu zehn Kilowatt elektrische Leistung erzeugen kann. In Kooperation mit den Berner Kraftwerken soll der vom Drachen erzeugte Strom zum Verbraucher gelangen. Sollte auch der Prototyp T 29 erfolgreich getestet werden, kann laut den Entwicklern zeitnah die Serienproduktion des TT100 mit einer Spannweite von 15 Metern erfolgen. Die Leistung von maximal 100 Kilowatt könnte etwa 60 Einfamilienhäuser mit Strom versorgen.
Wie Luchsinger erklärt „ist Windkraft nichts für dicht besiedelte Gebiete.“ Laut ihm sieht er mögliche Einsatzzwecke des Drachen in abgelegenen Gebieten und auf kleineren Inseln. Derzeit „sprechen die Wissenschaftler mit Minen, abgelegenen Siedlungen und Inseln als potenzielle Kunden, wo bis heute Dieselgeneratoren im Einsatz, die Abgase und Lärm erzeugen und deren Treibstoff mit hohem Aufwand angeliefert werden muss.“
Langfristig denkt Luchsinger jedoch noch größer und sieht Potenzial darin, die Technologie in schwimmenden Windparks im Meer einzusetzen. Die Vorteile sind dort seiner Meinung nach der nahezu unbegrenzte Platz und die hohen Windstärken. Aktuell sucht das Unternehmen zur Finanzierung nach Partnern aus der Energiewirtschaft und privaten Kapitalgebern.