Robert Klatt
Die durch den Klimawandel steigenden Temperaturen sorgen in Mitteleuropa für anormale Schneeschübe im Winter und Frühjahr.
Oulu (Finnland). Der Klimawandel macht in klimatisch gemäßigten Regionen nicht nur Hitzewellen hundertfach wahrscheinlicher, sondern sorgt paradoxerweise auch dafür, dass es im Winter zu Frühjahr zu anormalen Kälteeinbrüchen kommt. Verantwortlich dafür sind die geringeren Temperaturunterschiede zwischen der Arktis und den mittleren Breiten, aufgrund derer vermehrt kalte polare Luft nach Mitteleuropa strömt. Der schwache Polarwirbel hat unter anderem im Januar und Februar 2021 in Deutschland für die extreme Kälte gesorgt.
Wissenschaftler der Universität Oulu haben nun untersucht, warum es bei solchen Kälteeinbrüchen häufig zu schweren Schneefällen und Hagelstürmen kommt. Laut ihrer Publikation im Fachmagazin Nature Geoscience untersuchte das Team um Hannah Bailey dazu exemplarisch den Kälteeinbruch vom Februar 2018, der in halb Westeuropa für starken Schneefall und Blizzards sorgte. Das „Beast from the East“ genannte Ereignis sorgte durch Ausfälle der Infrastruktur für Kosten in Schäden von etwa einer Milliarde Euro pro Tag.
Meteorologische Daten zum Wetter und den damaligen Luftströmen sowie des Anteils des schweren Wasserstoff-Isotops Deuterium in den damals gesammelten Proben zeigen, dass bei solchen Frühjahrs-Kälteeinbrüchen in Mitteleuropa Schnee niederschlägt, der aus Wasser aus dem arktischen Meer entstanden ist. „Mithilfe unserer Zurückverfolgung identifizierten wir für den Frühjahr 2018 drei konkrete Pulse von Feuchtigkeit aus der Barentssee: vom 19. Februar – 4. März, vom 14. bis 20. März und vom 23. bis 28. März. Jeder dieser Schübe brachte vermehrten kontinentalen Schneefall und hohe Überschüsse an Wasserdampf und Niederschlägen“, erklären die Autoren.
Während des „Beast of the East“ gelangten dadurch mehr als 140 Gigatonnen Feuchtigkeit von der Barentssee nach Europa. 88 Prozent des gesamten Schneefalls im Frühjahr ging laut den Analysen auf den Wasserdampf-Einstrom aus dem Nordpolarmeer zurück. Auch Satellitenaufnahmen zeigen, dass sich zu dieser Zeit über den eisfreien Flächen der Barentssee verstärkt Wolken bildeten, die sich südwärts in Richtung Europa bewegten.
Es handelt sich dabei laut der Studie nicht um einen Einzelfall. Ausgelöst werden die arktischen Schneebringer nicht ausschließlich durch Luftströmungen, sondern auch durch den Rückgang des Meereis in der Barentssee, das durch den Klimawandel abschmilzt. Etwa 95 Prozent des gesamten Winter-Meereisschwunds der Arktis befindet sich laut den Wissenschaftlern um Bailey in der Barentssee.
Geht das Eis zurück, liegt in der Barentssee auch im Winter wärmeres Wasser frei, das dann verstärkt verdunstet. „Meereis wirkt wie ein Deckel für den Ozean“, erklärt Bailey. Ein Rückgang des Meereis führt also dazu, dass mehr Wasserdampf in der Atmosphäre aufsteigen kann. Ein Berechnungsmodell zeigt, dass pro verschwundenem Quadratmeter Meereis rund 70 Kilogramm Wasserdampf entstehen. „Ein zunehmend offener, eisfreier arktischer Ozean ist demnach ein wichtiger Lieferant für die Luftfeuchtigkeit, die Kontinentaleuropa die winterlichen Niederschläge bringt“, konstatiert Bailey.
Sollte das arktische Meereis in Zukunft noch weiter abschmelzen, bedeutet dies, dass Schnee aus der Arktis häufiger Europa treffen wird. Wetterdaten zeigen zwar, dass seit 1979 die Gesamtschneemenge in Europa stetig sinkt, dass Schneefall durch Frühjahres-Einbrüche aber um 16 Millimeter pro Jahrzehnt zugenommen hat.
„Der Klimawandel manifestiert sich nicht nur auf die offensichtliche“, erklärt Bailey. Die Erwärmung der Arktis kann demnach zu Kälteeinbrüchen und Schneeschüben in Europa führen. „Das scheint paradox, aber die Natur ist eben komplex und was in der Arktis geschieht, bleibt nicht in der Arktis“, sagt Bailey.
Nature Geoscience, doi: 10.1038/s41561-021-00719-y