Robert Klatt
Radioaktivität ist für Lebewesen im Inneren der Erde die wichtigste Energiequelle. Ähnliche Bedingungen existieren auch auf anderen Planeten und könnten außerirdisches Leben ermöglichen.
Kingston (U.S.A.). Mikroben und andere Kleinstorganismen leben trotz dauerhafter Dunkelheit, einem hohen Druck und einem minimalen Nährstoffangebot auch in der tiefen Biosphäre der Erde, die mehrere Kilometer unter dem Meeresboden und der Oberfläche der Kontinente liegt. Die dortige Biomasse umfasst Quadrilliarden von Zellen und entspricht mindestens die des oberirdischen Lebens.
Untersuchungen haben gezeigt, dass viele der dort lebende Mikroben als Energiequelle Wasserstoff nutzen, aus denen ihr Stoffwechsel im Kombination mit weiteren Chemikalien, die aus dem Gestein der tiefen Biosphäre stammen, Nahrung gewinnt. Der für das Überleben der Mikroben essenzielle Wasserstoff stammt wiederum aus chemischen Reaktionen, die durch permanenten natürlichen radioaktiven Zerfall im Untergrund angeregt werden.
Justine Sauvage, Universität Göteborg: „Aber in welchem Maße die unterirdischen Ökosysteme auf diesen radiolytischen Produkten beruhen, war bislang kaum bekannt – auch weil man nicht wusste, wie hoch die chemische Ausbeute durch diese Zerfallsstrahlung ist.“
Ein Team aus Wissenschaftlern unter Beteiligung der University of Rhode Island hat deshalb untersucht, wie viel Wasserstoff in tiefen Ozeansediment die dortige radioaktive Strahlung erzeugt.
Laut der im Fachmagazin Nature Communications publizierten Studie setzen die Forscher dabei in einem Laborexperiment Proben von Meeressedimente aus verschiedenen Tiefen Alpha- und Gammastrahlung aus. Dabei zeigte sich, dass die per Cäsium-137 (Gammastrahlen-Quelle) und Polonium-210 (Alphastrahlen-Quelle) erzeugte Strahlung in den feuchten Sedimenten bei gleicher Strahlenbelastung 30-Mal mehr Wasserstoff freisetzt als im puren Meerwasser.
D’Hondt, University of Rhode Island: „Das nasse marine Sediment wirkt wie ein Verstärker für die Produktion der nutzbaren Chemikalien.“
Auch die übrigen durch die Strahlung oxidierten Substanzen waren im Gestein der tiefen Biosphäre höher als im Wasser.
Um aus den Ergebnissen der Laborexperimente konkret ermitteln zu können, welchen Einfluss die Radioaktivität auf das Leben in der tiefen Biosphäre hat, haben die Forscher den Anteil natürlicher Radionuklide in verschiedenen Gesteinsproben aus Bohrkernen des Pazifiks und Atlantiks untersucht. Die dabei ermittelten Zerfallsraten zeigen in Kombination mit den Daten der Laborexperimente, wie hoch die strahlenbedingte Wasserstoffproduktion in den Meeressedimenten ist.
Justine Sauvage: „Die globale Rate der radiolytischen Wasserstoffproduktion in den marinen Sedimenten entspricht einem bis zwei Prozent dessen, was weltweit an organischem Material auf den Meeresboden gelangt.“
In oberen Schichten des Meeresgrunds sind demnach vor allen organische Materialien die Nahrungsquelle der dort lebenden Organismen, in den unteren Schichten der tiefen Biosphäre überwiegt hingegen die Radioaktivität als Energiequelle.
Justine Sauvage: „Diese Erkenntnis ist fundamental für das Verständnis des Lebens auf der Erde, aber auch für die Habitabilität anderer Himmelskörper wie dem Mars.“
Die für die radioaktive Wasserspaltung nötigen Bedingungen existieren auch außerhalb unseres Planeten. Als mögliche Kandidaten nennen die Autoren den Saturnmond Enceladus und den Jupitermond Europa. Auch diese Himmelskörper könnten mineralische Bedingungen haben, die eine Bildung von Wasserstoff sowie weiteren strahlenbedingten Molekülen ermöglichen.
D’Hondt: „Einige derselben katalytischen Minerale sind auch auf dem Mars vorhanden – und wenn man sie hat, dann läuft auch dieser Prozess ab. Vielleicht kann diese radioaktiv bedingte Wasserspaltung daher auch das Leben auf anderen Welten ermöglichen.“
Die neuen Erkenntnisse haben außerdem eine Bedeutung für die Wahl atomarer Endlager.
D’Hondt: „Wenn man radioaktiven Abfall in Sediment oder Fels lagert, können dort durch diese Prozesse Wasserstoff und Oxidantien entstehen – und das schneller als in reinem Wasser. Das könnte diese Lagersysteme stärker korrodieren als man bisher annimmt.“
Radioaktiv katalysierten Reaktionen könnten demnach zu vermehrten Lecks oder der Bildung von Wasserstoffgas im Untergrund führen. Bisher als geeignet angesehene Orte für atomare Endlager müssen aufgrund des neuen Wissens also erneut untersucht werden.
Nature Communications, doi: 10.1038/s41467-021-21218-z